Samstag, 7. Mai 2016

Stellungnahme zum BGE von selbstbestimmung.ch

Der Vorstand von selbstbestimmung.ch hat sich im Hinblick auf die bevorstehende Abstimmung mit dem Thema Bedingungsloses Grundeinkommen befasst. Unser Positionspapier zum Thema BGE können Sie auch als barrierefreies PDF-Dokument herunterladen.

Positionspapier zum Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE)

Ausgangslage

Problem Invalidenversicherung

Die Invalidenversicherung steckt – wie jedes grosse Sozialwerk in unserem Land – in der Krise: Ihr Finanzierungsmodell liefert die zur Deckung der bestehenden Leistungsansprüche erforderlichen Mittel schon seit Jahren nicht mehr. Die Revisionen 5 und 6a haben kurzfristige Einsparungen auf Kosten der Versicherten und der Gemeinden (Sozialhilfe) gebracht. Und während dem der ganz grosse Bumerang-Effekt dieser „Kässeli-Politik“ noch aussteht, ist bereits ein ohnehin schon viel zu undurchsichtiger, ineffizienter Apparat zu einem noch chaotischeren und teureren umgebaut worden.

Obwohl von Anfang an als Eingliederungsversicherung konzipiert, war und ist die Invalidenversicherung in diesem Punkt seit jeher eine Fehlkonstruktion, wie Forschungsberichte immer wieder zeigen.

Die einzig beeindruckende Leistung dieser Phase erbrachte bislang die Kommunikations-Abteilung des BSVs, welche den Medien jedes noch so vernichtende Fazit von Statistikern und Forschern als Bestätigung eines erfolgreichen Revisions-Kurses zu verkaufen vermochte. Doch gerade dies trägt ja mit dazu bei, dass das längst überfällige Umdenken nicht einsetzt: Die bürgerliche Parlaments-Mehrheit reagiert auf jede sozialpoltische Frage reflexartig und erfolglos mit dem Mantra „sparen, überwachen, bestrafen“, mit dem sie unvermindert hofft, die Rentner in den 1. Arbeitsmarkt verscheuchen zu können, während dem die linke Minderheit ebenso reflexartig und erfolglos in ihrer Verteidigungshaltung verharrt.

Die ewige (unter diesen Voraussetzungen unlösbare) Debatte um das Sanierungsproblem der Invalidenversicherung blockiert zudem die Möglichkeit, überhaupt über eine zeitgemässe, inklusive Neuausrichtung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention nachdenken zu können. Dabei wäre genau dies im Moment die entscheidende Herausforderung.

Problem Arbeitsmarkt

Nun haben wir auf der anderen Seite einen von Rationalisierung und Digitalisierung geprägten Arbeitsmarkt, in dem sich nur halten kann, wer auf Leistung getrimmt ist und nicht viel kostet. Viele Arbeitnehmer über 50 bekommen diese Entwicklung bereits heute deutlich zu spüren. Einige Forscher meinen gar, dass durch die Fortschritte im Bereich künstliche Intelligenz bis 2045 jeder zweite Mensch arbeitslos sein wird.

Man braucht vor diesem Hintergrund keinen Wirtschaftsexperten, um zu verstehen, warum die Sanierung von Sozialwerken wie der IV und der AHV durch berufliche Eingliederung und längere Erwerbstätigkeit keine realistische Option ist. Es ist im Gegenteil eher anzunehmen, dass die Sozialwerke auch in Zukunft immer mehr Menschen aufnehmen müssen, die aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden.

Das BGE und der Arbeitsanreiz

Das heutige Sozialsystem ist geprägt von zahlreichen Leistungserbringern, die sich auf alle drei Staatsebenen und den privaten Sektor verteilen und sich oft gegenseitig ins Handwerk pfuschen oder den schwarzen Peter zuschieben. Jeder Leistungsbezug ist an gewisse Anforderungen gekoppelt und zieht negative persönliche Konsequenzen nach sich.

Das Hauptargument der BGE-Gegner besteht bekanntlich darin, dass niemand mehr einen Anreiz hätte zu arbeiten, wenn der Staat ein Grundeinkommen bedingungslos entrichten würde. Die Praxis zeigt jedoch das genaue Gegenteil: Es sind nicht fehlende Arbeitsanreize, die einige eingliederungsfähige Bezüger in den Sozialwerken verharren lassen, sondern die zahlreichen Bestrafungen und Hürden, die das an Bedingungen geknüpfte Sozialsystem einem arbeitswilligen Bezüger androht.

Einen Anreiz, um eine Arbeit aufzunehmen, braucht hingegen niemand. Arbeit ist sinnstiftend, ermöglicht soziale Kontakte und wo sie anfällt, wird sie auch erledigt – selbst wenn sie nicht bezahlt wird. So kommt das Bundesamt für Statistik zum Schluss, dass in der Schweiz im Jahr 2013 sogar deutlich mehr unbezahlte (8,7 Mia Stunden) als bezahlte Arbeit (7,7 Mia Stunden) geleistet wurde.

Dazu einige Beispiele:

Strafen und Hürden für arbeitswillige Sozialhilfebezüger

Das Vermögen muss bis auf 4’000 Franken aufgebraucht werden, bevor man zum Bezug von Sozialhilfe berechtigt ist. Das und die unsinnigen Workfare-Programme, die keinen messbaren Effekt auf die Eingliederung haben, schränken die Möglichkeiten für eigenverantwortliche Eingliederungsbemühungen, z.B. in Form einer Weiterbildung oder einer selbständigen Tätigkeit, erheblich ein. Gelingt die Eingliederung dennoch, muss der bei der Gemeinde hochverschuldete Eingegliederte zu erst einmal die innerhalb der letzten fünf Jahre bezogenen Sozialhilfegelder zurückerstatten.

Strafen und Hürden für arbeitswillige IV-Rentner

Wer eine Erwerbsarbeit aufnimmt, die den Rentenanspruch beeinflusst oder gar aufhebt und scheitert, kann nicht ohne weiteres wieder die ursprüngliche Rente beziehen. Es muss nun nachgewiesen werden, dass sich der Gesundheitszustand in der Zwischenzeit erheblich verschlechtert hat. Dies resultiert aus der Tatsache, dass die IV immer noch weitestgehend vom medizinischen statt vom sozialen Modell von Behinderung ausgeht. Diese Tatsache muss, unabhängig von der BGE-Diskussion dringend korrigiert werden.

Dementsprechend meiden viele Betroffene jegliches Handeln, welches zu einer Reduktion des Invaliditätsgrades führen könnte, während dem manch andere ihre Integrationsbemühungen vor der zuständigen IV-Stelle verheimlichen, bis der vollständige Wechsel in die Erwerbsarbeit gesichert ist. Diese Versicherten verletzen damit ihre gesetzliche Meldepflicht und werden somit vom System sogar in die Kriminalität getrieben.

Strafen und Hürden für BGE-Bezüger

In einem Sozialsystem mit Bedingungslosem Grundeinkommen führt die Aufnahme einer Arbeit in keinem Fall zu einem tieferen Einkommen oder Vermögen, höheren Steuern oder eingeengtem Handlungsfreiraum. Wird eine Arbeit bezahlt und übersteigt der Lohn die Höhe des BGE, so nimmt das Einkommen zu. Ist der Lohn tiefer als das BGE oder gleich hoch, bleibt das zur Verfügung stehende Einkommen unverändert (Unter der Annahme, dass Lohnzahlungen nach Einführung des BGE um die Höhe des BGE gekürzt werden). Die Strafe bleibt also aus, während dem es den Anreiz unseres Erachtens sowieso nicht braucht.

Zu guter Letzt darf nicht vergessen werden, dass ohnehin jeder Mensch Anrecht auf ein gesichertes Existenzminimum hat. Die unterschiedlich privilegierten und stigmatisierten Kasten unter den vom Sozialstaat Lebenden ist vor diesem Hintergrund mehr Ausdruck einer ideologisch motivierten moralischen Bewertung verschiedener Lebenssituationen (schwarze Pädagogik), als ein rein sachlich begründbares System.

Kann das BGE das heutige Sozialsystem ersetzen?

Unseres Erachtens ist das definitiv nicht der Fall. Unter der Prämisse, dass sich das BGE wirtschaftsverträglich finanzieren lässt (dazu später mehr) und dass es existenzsichernd ist, könnte es aber das Kernstück eines von Grund auf neu erdachten, administrativ schlanken und effizienten Sozialsystems bilden. Das nachfolgende Beispiel beschränkt sich auf die Invalidenversicherung.

Die aktuelle Volksinitiative lässt die Höhe des BGE offen. Häufig ist jedoch von 2’500 Franken pro Monat die Rede. Das entspricht etwa der aktuellen Maximal-IV-Rente. Diese bekommen im heutigen System nur Personen, die vor dem Eintritt einer 100%-Invalidität über einen ausreichenden Zeitraum einen eher hohen Verdienst von 7’000 Franken pro Monat erzielt haben. Das BGE in der angenommenen Höhe könnte somit zumindest die IV-Rente durchaus ersetzen und den Bedarf nach Ergänzungsleistungen reduzieren.

Die übrigen Aufgaben der Invalidenversicherung müssten aber neu organisiert und auch weiterhin auf der Grundlage individueller Abklärungen zugesprochen werden. Denkbar wäre die Schaffung einer Assistenz- und Erwerbsversicherung, welche Pflege und Assistenz-Geräte, sowie Massnahmen zur beruflichen Eingliederung subjektorientiert finanziert. Dieses Prinzip der Unterscheidung zwischen Grundeinkommen und spezifischen Mehrkosten müsste auf alle Sozialwerke sinngemäss angewendet werden. Ausserdem müsste natürlich auch im neuen System eine private Vorsorge, die über die Höhe des BGE hinausgeht, für jene die es sich leisten können möglich bleiben.

Wer soll das bezahlen?

Zur Finanzierung staatlicher Aufgaben gibt es einen Ansatz, den wir unabhängig von der BGE-Diskussion für sehr interessant halten: Die Automatische Mikrosteuer (AMTD) nach Felix Bolliger. Hierbei wird direkt der elektronische Zahlungsverkehr besteuert. Somit konzentriert sich die Steuerlast nicht auf bestimmte Bereiche und erzeugt keine der üblichen, destruktiven Nebeneffekte von Besteuerung. So darf nicht vergessen werden, dass z.B. die Mehrwertsteuer den Konsum hemmt, oder die Sozialabgaben die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Verteilt sich die Steuerlast gleichmässig auf alle Geldflüsse, erübrigt sich das. Das Steuersystem wird dadurch auch stark vereinfacht und Hinterziehungen gestalten sich weitaus schwieriger. Laut BGE-Mitinitiant Oswald Sigg wäre ein AMTD-Steuersatz von 0,05 Prozent ausreichend, um das BGE zu finanzieren.

Eine Variante des BGE, welche eine geringere Umverteilung erfordert, bildet zudem die negative Einkommenssteuer: Anstatt allen ein BGE auszuzahlen und die Löhne dann wieder um diesen Betrag zu kürzen, kann das Einkommen von Geringverdienern und Erwerbslosen mittels Transferzahlungen auf 2’500 Franken aufgestockt werden. Bei so einem Modell wäre es aber besonders wichtig, allfällig notwendige zusätzliche Leistungen (Assistenz, Ergänzungsleistungen, etc.) bei der Berechnung des Transfer-Anspruches nicht zum Einkommen dazu zu zählen.

Was spricht gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen?

Die politische Realität. Die aktuellen Verhältnisse im Bundesparlament lassen eine für Menschen mit Behinderung sinnvolle Umsetzung des Bedingungslosen Grundeinkommens kaum zu. Die bürgerliche Mehrheit will sparen, während dem die Ratslinke (selbst wenn sie mehr Einfluss hätte) zwar offener für soziale Anliegen ist, aber nicht unbedingt viel offener für einen grundliegenden Paradigmenwechsel. Es ist dem Helfer wichtig, entscheiden zu können, wer Hilfe verdient und wer nicht.

Langfristig dürfte sich das aber ändern. Keine Wirtschaft kann ohne potente Konsumenten funktionieren. Denn nur sie halten das Geld in Bewegung und schaffen somit erst die Möglichkeit, Wertschöpfung zu betreiben. Deren Zahl dürfte aber, wie unter „Problem Arbeitsmarkt“ geschildert, zukünftig eher abnehmen. In dem Moment, in dem starke Wirtschaftsverbände das erkennen, wird die Einführung des BGE zu einem Kinderspiel.

Zusammenfassung

Der Vorstand von selbstbestimmung.ch begrüsst die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens als mögliches Kernstück eines vollkommen neu zu entwickelnden Sozialsystems, welches den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts Rechnung trägt. Wir sehen aber auch, dass der politische Wille für ein grundliegendes sozialpolitisches Umdenken trotz aller Probleme mit dem bestehenden System bislang auf keiner Seite des politischen Spektrums existiert.

Die aktuelle Volksinitiative ist für uns daher ein höchst willkommener Denkanstoss, der hoffentlich eine langfristig positive Entwicklung in Gang setzt. Mehr kann diese Initiative unseres Erachtens aber leider nicht beitragen. Sie wird an der Urne scheitern. Und würde sie widererwarten angenommen werden, wäre die Umsetzung, die das aktuelle Parlament widerwillig ausarbeiten müsste, vermutlich nicht zu gebrauchen.

Dennoch besteht natürlich die Möglichkeit, der Initiative eine Sympathie-Stimme zu geben. Somit könnte der politischen Führung unseres Landes signalisiert werden, dass man sich eine konstruktivere, mutigere Sozialpolitik wünscht.

David Siems

Quelle: via @selbstbestimmung.ch,  18.04.2016



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Quelle: via @Retweeter, May 07, 2016 at 09:55PM

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