Dienstag, 19. Juli 2016

Arbeitsscheu Agentur

Hartz IV Über die brandgefährlichen Implikationen „moderner“ Arbeitsmarktpolitik.

„Erwerbsfähige, die angebotene Arbeitsplätze zweimal ohne berechtigte Gründe abgelehnt oder die Arbeit zwar aufgenommen, aber ohne stichhaltigen Grund wieder aufgegeben haben, sind der Gestapo zu melden. (…) Diese Menschen sind in polizeiliche Vorbeugehaft zu nehmen. Vor allem sind hier zu berücksichtigen: Landstreicher, Bettler, Asoziale, Zigeuner und nach Zigeunerart herumstreunende Personen (…), die gezeigt haben, dass sie sich in die Ordnung der Volksgemeinschaft nicht einfügen wollen.“

Heinrich Himmler in einem Schnellbrief-Erlass am 1.6.1938, zitiert aus Peter Longerich-„Heinrich Himmler-Eine Biographie“.

Der Leser mag nicht erschrecken, dass zum Auftakt dieses Eintrages ein derart streitbarer Charakter zitiert wird. Dieses etwas krude Auftaktzitat darf der Leser in einem beißend grellen Lichte lesen, wenn er bedenkt, dass die „moderne“ deutsche Arbeitsmarktpolitik anno 2011 weiterhin unbeirrt auf die massive Mobilisierung der von vornherein als „arbeitsscheu“ Verdächtigten durch den Staat setzt. Dem „modernen“ Staat ist keine „Arbeits-Massnahme“ (die sich bereits im „Dritten Reich“ haargenau so nannte) zu schade, den doch nach der reinen Lehre eigentlich mündigen, aber derzeit arbeitslosen Bürger zu schikanieren und zu malträtieren. Der Hartz-IV-Empfänger ist von vornherein verdächtig und hat, ohne Chance auf eine faire Diskussion auf Augenhöhe, von allem Anfang an eine zweifelhafte Bringschuld. Eines der ersten Essentials, welches ihm der sogenannte Arbeitsvermittler beim Erst-Antrag beibringen wird, ist die Pflicht nach Sozialversicherungsgesetzbuch, dass er im Grunde unrechtmässige Leistungen bezieht, für deren Bezug er im Gegenzug unbedingt, schnellstmöglich und unter maximaler Zumutung eine neue Arbeit zu finden hat. Unterschwellig wird dem Sozialgeldempfänger suggeriert, dass er vom gesunden Volkskörper zehrt und somit (und das Wort ist „dank“ BILD und anderen Hetz-Blättern wieder erstaunlich salonfähig geworden): ein „Sozialschmarotzer“. Auch wenn kein Mitarbeiter der Agentur für Arbeit das derart explizit ausdrücken würde.

1938 hatte der „Reichsfuehrer-SS“ Heinrich Himmler eine famose Idee: zur Totalisierung der kurz vor dem Eintritt in den Krieg stehenden deutschen Wirtschaft gälte es ALLE verfügbaren Arbeitskräfte zu maximalisieren und auszuschöpfen. Ein Ansatz war auch, das Freisein von Arbeit zu einem Verbrechen qua definitionem auszuküren: wer also nicht arbeitete oder frei umherzog, wurde gebrandmarkt als „Asozialer“, als und dies durchaus wörtlich: „Sozialschmarotzer“, ein gefährlicher Parasit am eigentlich gesunden „Volkskörper“. Im Zuge dieser Bemühungen schuf Himmler ein Projekt, dem er sich nun mit Feuereifer zu wandte: das sogenannte „Projekt“ mit der etwas krumm klingenden Bezeichnung: „Arbeitsscheu Reich“.

Menschen, die als „Asoziale“ stigmatisiert wurden, die nach heutigen Begriffen psychisch krank waren, wurden demgemaess in KZ’s zur Zwangsarbeit eingezogen (eben den sogenannten „Massnahmen“ und man beachte übrigens wie inflationär die Agentur für Arbeit diesen Begriff in ihren Info-Broschüren benutzt), sie waren vogelfrei und konnten jederzeit nach einem „Sondererlass“ (oftmals sogar ohne einen solchen aus reiner Willkür) wegen Faulheit (!) erschossen werden.
Meine eigene Erfahrung mit der Agentur ist zB, dass ich damals, als ich mich für ein halbes Jahr selbst auf Hartz IV begeben und mir irgendwann die Schmach antun musste, meiner „Vermittlerin“ zu erklären, dass mir aus psychischen Gründen das ganze Verfahren absolut gegen den Strich geht (ich hatte zuvor allerdings auch ganz offen, unbedarft und überzeugt politisches Widerstreben ins Rennen geführt), sie mir erklärte, ich müsse erkennen, dass ich fortan vorrangig den Fokus auf den Erwerb eines neuen Jobs zu legen habe oder auf klardeutsch übersetzt:

„dass es Ihnen angeblich psychisch nicht gutgeht, habe ich ueberhoert, Sie fauler Sack, suchen Sie sich einen Job und es geht Ihnen wieder besser.“

Ja, da habe ich sofort bei mir bemerkt: vielleicht ist aufgezwungene Arbeit doch ein wahres Therapeutikum, vielleicht macht Arbeit, zumal nach allen Gesetzen des Neoliberalismus, doch frei und unbeschwert. „Arbeit macht frei“, dieses ermutigende Spruchband könnte nach der bestechenden Alleinstellung der Arbeit doch über allen Agentur-Eingängen stehen, so dachte ich mir.

Absolut gaensehauterregend ist die (wenn auch unbewusste) Kontinuitaet quasi-faschistischen Denkens, das hinter dieser Glorifizierung der Arbeit als politisch-soziales Allheilmittel steckt und die strenge und konsequente Sanktionierung bei Nicht-Beachtung des auferlegten Prinzips. Heutzutage führt der Weg der sanktionierten Faulheit zwar nicht mehr ins Arbeitslager und zur Gestapo, sondern in die kalte Überlassenheit der Markt-Gescheiterten, man wird dann eben zum Paria, zum Ausgestossenen, zum Vagabunden und Landstreicher. Man wird nur abgestempelt und von den Medien stigmatisiert und marginalisiert als asozialer Einzelfall, als Schädling am bundesrepublikanischen und doch eigentlich so gesunden Volkskörper. Vorzeige-Asoziale werden als gewünschte Marionetten dieses Zerrbildes im Fernsehen vorgeführt, quod erat demonstrandum. Die wiederum schüren einen Zorn der immer so leicht zu erregenden Mittelschicht, die sich absolut bestätigt sieht in ihrer beschränkten Weltsicht: für sie ist der Hartz IV-Empfänger per se asozial, die alleinerziehende Mutter, die „Leistung“ bezieht, eine arbeitsscheue Halbmutter, die schon das nächste asoziale Individuum auf Staatskosten heranzieht.

Besorgniserregend ist beim Blick auf die „moderne“ Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik, dass der freie Bürger als souveränes Individuum als Empfänger staatlicher Transferleistungen von einem Moment auf dem anderen zum verwalteten und zur Disposition stehenden Objekt verkommt. Die Transferleistung ist plötzlich nicht mehr „Wohlfahrt“ und somit eine säkularisierte Form staatlicher milder Gabe, sondern eine Art von Minimal-Alimentation, die von vornherein grobe Verdächtigungen gegen das verwaltete Objekt, den Transferempfänger, aussendet.

Zur Disposition steht der Transferempfänger in ALLEN Belangen: fast jeder Job ist zunächst einmal zumutbar, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er Leih-/Zeitarbeiter wird und von dem Personaldienstleistungsunternehmen nach freier Verfügung hin und her disponiert wird und, sollte der Empfänger partout nicht arbeiten können/wollen, steht er zur gesellschaftlichen Disposition: dann erfolgt die Leistungssperre, der unausgesprochene Ausschluss aus der Gesellschaft, die „dispositio“, die der Lateiner mit „Entfernung“ übersetzt. Man beachte auch, dass „waste disposal“ im Englischen „Mülldeponie“ bedeutet. Der Mensch ist zu Müll geworden, seine Arbeitskraft erschöpft und womöglich ausgebeutet, das nunmehr asoziale Element wird der kalten und „bereinigenden“ Hand des Marktes überlassen. Diesselbe Hand wischt den nunmehr Verfemten leichterdings an den alleräussersten Rand der Gesellschaft.

Zuvor muss(te) sich der Arbeitslose einem inquisitorischen Verfahren stellen, dass ihm explizit mitteilte, dass er auf Staatskosten, ja: auf Kosten seiner Mitbürger lebt. Er musste gewaltige voluminöse Anträge ausfüllen, die ihm Schikane dünkten und immer wieder Termine erdulden („wir üben jetzt mal wieder Frühaufstehen“) und Massnahmen mitmachen, die seiner Disziplinierung und dem unausgesetzen ergonomischen Training dienten (die Wehr-Ertüchtigung für den Arbeitsmarkt). Jede Bewegung aus der Heimatstadt sollte, nach der reinen Lehre, der Agentur mitgeteilt werden und die Erlaubnis eingeholt werden. „Unerlaubtes Fernbleiben“ oder „nichtmitgeteilte Fremdortaufenthalte“ werden umgehend mit Leistungseinschränkung nach Paragraph XY Sozialgesetzbuch oder Leistungsentzug geahndet.

„Die öffentliche und private Fürsorge hatte sich in der NS-Zeit grundlegend gewandelt. Immer mehr ging von Fürsorgeinstitutionen nicht mehr Schutz, sondern Bedrohung für Hilfesuchende aus.“ ..

..zitiert aus: Wolfgang Ayass, „Die Aktion Arbeitsscheu Reich“.

Wenn ein demokratischer Staat beginnt, die Arbeitslosigkeit zwar nicht ausgesprochen, aber doch im fortwährend stummschweigenden Sub-Kontext zu kriminalisieren und man dann sieht, dass sich Regierungs- und Oppositionsparteien (im übrigen weiterhin ergebnislos) um eine Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes um 5 Euro (Regierung) oder 11 Euro (juppieh! Opposition) streiten und NICHT etwa um den generell gewaltigen Änderungs- und Abschaffungsbedarf dieses absolut fehlgeschlagenen und menschenverachtenden Projektes „Agenda 2010“, drohen unserer Gesellschaft rohe und düstere Zeiten. Wir hatten das alles schon einmal…

„F. ist ein arbeitsscheuer Mensch. Er lebt planlos im Lande herum und lebt vom Betteln. Einer geregelten Arbeit ist er bisher noch nie nachgegangen. Die Allgemeinheit muss vor ihm geschützt werden.“

So lautete die vollständige Begründung der Kriminalpolizeistelle Kassel im Haftbefehl gegen einen 27-jährigen Bettler im Juni 1938. Die vier knappen Sätze waren ein Todesurteil. F. starb drei Jahre später im Konzentrationslager Gusen, einem Nebenlager von Mauthausen.

Zitiert aus: Wolfgang Ayass, „Die Aktion Arbeitsscheu Reich“.

…nächstens leider mehr…

Quelle: via @freitag.de

 



Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Retweeter, July 19, 2016 at 06:05PM

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