Dienstag, 27. Dezember 2016

Abwehrschreiben gegen eine EGV

Ihre Eingliederungsvereinbarung vom xx.xx.xxxx  AZ: **********

Sehr geehrte Frau ***, vielen Dank (auch an Frau ***) für das nette Gespräch, am xx.xx.xxxx.

Da wir uns nun, anders als vor unserem Gespräch – nämlich gar nicht – besser kennen, war ich fast schon geneigt, Ihre Eingliederungsvereinbarung zu unterzeichnen. Was sollte schon passieren? Solange ich mich an die Verpflichtungen halte, hätte ich nichts zu befürchten. Jedoch … „solange“ und „hätte“ schränken die Schadhaftigkeit von Sanktionen, die mich im Falle des Falles träfen, nicht ein und bekanntlich wusste man schon vor Jahrhunderten, dass man einen verdammt langen Löffel braucht, sollte man mit dem Teufel zu speisen gedenken.

Es sind noch einige Fragen offen. Die wohl wichtigste davon lautet: Habe ich mein Recht auf ein menschenwürdiges Leben verwirkt, wenn ich mich nicht vollumfänglich an meine Pflichten halte? Sie konnten und wollten mir diese Frage nicht beantworten. Es sei nicht Ihre Aufgabe Politik zu machen. Dennoch müssen Sie die Gesetze anwenden, die das Resultat eben dieser gegenwärtigen Politik sind. Wenn ein Gesetz die gesellschaftliche oder gar physische Todesstrafe für Erwerbslose vorsieht, die sich nicht hundertprozentig an die Regeln halten, dann sollten Sie hinterfragen, ob dieses Gesetz nicht selbst bereits gegen das Gesetz verstößt.

Die Richtigkeit dieser Gesetze zu hinterfragen ist hierbei Ihre Aufgabe. Das ist Bestandteil Ihrer Dienstpflicht! Denn die blinde Anwendung von Gesetzen, die offenkundig Unrecht sind, führt Sie direkt in die Schreibtischtäterschaft. Sollten Sie sich eines Tages dafür verantworten müssen, für ein Unrechtssystem tätig gewesen zu sein, dann dürften Sie mit der Aussage, doch nur Befehle und Anweisungen befolgt, oder von alledem nichts gewusst zu haben, unter Garantie nicht durchkommen. Sie sind dem Gesetz verpflichtet, aber wenn das Gesetz von Ihnen verlangt, gegen ein anderes Gesetz zu verstoßen, glauben Sie ernsthaft, dass Sie das tun müssen? Schützt Unwissenheit vor Strafe? Sie kennen die Antwort. Es gibt eine Rechtshierarchie, an deren Spitze das Grundgesetz steht, gefolgt vom Völkerrecht, welches auf deutschem Boden unmittelbare Wirkung entfaltet. Erst danach kommt das SGB II. Sollte also das SGB II etwas vorsehen, was laut Art. 102 GG eigentlich abgeschafft ist, oder etwas einschränken, das laut Art. 1 GG für unantastbar befunden wurde, oder von Erwerbslosen Dinge verlangen, die nach Völkerrecht längst – und zu Recht – auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt wurden, sollten Sie sich die Frage stellen, ob das SGB II damit nicht ein kleines oder gar großes Legitimationsproblem haben könnte.

Tatsächlich besteht die Legitimation des SGB II lediglich aus einem Herrschaftsanspruch einer politischen Kaste, die das ganze Land samt seiner Ureinwohner an die Profitinteressen des Kapitals verpfändet hat. Ein solches Gesetz ist Unrecht und eben nicht legitim. Es zerstört langfristig die Lebensgrundlage von 99 Prozent der Menschen und forderte bereits (relativ) kurzfristig durch (vorgesehenen) Entzug der Lebensgrundlage Erwerbsloser, zahlreiche Opfer. Ich möchte betonen, dass es vor ein paar Jahrzehnten noch völlig legal war, Juden zu vergasen. Die Täter hatten nichts zu befürchten, solange der Führer seine schützende Hand über sie hielt. Was jedoch mit den Tätern passierte, als diese schützende Hand plötzlich nicht mehr da war, lernten wir alle in der Schule. Dabei haben auch sie nur Gesetze befolgt.

Glauben Sie, dass in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise, die schon rein mathematisch zu einem vollständigen und unabwendbaren Systemkollaps führen muss (und zwar schon recht bald), die Jobcenter-Mitarbeiter ewig unter dem Schutz des neoliberalen Systems stehen werden? Glauben Sie lieber an den Weihnachtsmann und machen Sie sich nicht der Mittäterschaft schuldig! Zumindest einen Hungertoten (2007; Speyer) hat das Hartz-IV-System nachweislich zu verantworten. Die Dunkelziffer solcher Fälle dürfte wohl weitaus höher liegen, denn die Todesursache „Erfolgsmodell Agenda 2010“ wird leider nirgends amtlich erfasst. Aus gutem Grund! Über die Zahl der Opfer kann man daher nur spekulieren. In diese Spekulationen mit einbeziehen sollten Sie auf alle Fälle die Tatsache, dass auch Sie einen Alarmknopf (zumindest einen virtuellen) haben, dass zahlreiche Jobcenter Deutschlands ohne Security-Mannschaft faktisch nicht betrieben werden können und das es trotz Security immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Erwerbslosen und ihren Sachbearbeitern kommt, wie z.B. letztes Jahr in Neuss. Man kann Menschen nicht beliebig in die Enge treiben, ihnen das Lebensnotwendigste vorenthalten oder sie demütigen, ohne dass es dabei zwangsläufig zu Toten kommt.

Sei es durch Hunger, Depressionen oder – als letztes Aufbäumen vor dem drohenden gesellschaftlichen Tod: Rache. Das, Frau ***, das ist das direkte Resultat unserer gegenwärtigen Arbeitspolitik. Das ist die Realität, der wir uns stellen müssen, wenn wir von fördern und fordern reden. Sie müssen sich eingestehen, dass angesichts dieser Umstände etwas in diesem Land nicht stimmen kann. Das alltägliche Unrecht nicht zu sehen, halte ich für unmöglich. Wir haben kaum freie Stellen, dafür aber ein Millionenheer Erwerbsloser und ein System welches diese Millionen immer und immer wieder auf die Reise nach Jerusalem schickt, wo doch längst jeder weiß, dass nicht genügend Stühle für alle da sind. Wer keinen abbekommt, „(…) soll auch nicht essen“. Wer die Reise nach Jerusalem nicht nach den oktroyierten Spielregeln mitspielen will, der soll gefälligst seine persönliche Reise über den Jordan antreten.

Fördern und fordern? Was für ein Hohn! Wenn es für Erwerbslose also nichts zu gewinnen gibt, welchen Sinn hat dann eine Eingliederungsvereinbarung? Doch eigentlich nur den, Sanktionen aussprechen zu können, sollte ein Erwerbsloser den Kadavergehorsam verweigern und sich das Recht heraus nehmen, eigenständig für sich selbst zu entscheiden, welcher Weg der Beste ist. Steigern Sanktionen seine Chancen? Führt das zu einem Ende der Arbeitslosigkeit? Werden damit die fehlenden Stellen geschaffen? Eher nicht. Die Androhung von Folter, Hunger und Obdachlosigkeit, ja sogar der physischen Vernichtung, sorgt nicht dafür, dass es mehr Stühle zu besetzen gibt und lenkt daher die Energie Erwerbsloser eher auf die Abwehr solcher Maßnahmen, als das eigentlich – zumindest offiziell – angestrebte Ziel zu erreichen, nämlich ein menschenwürdiges Leben zu führen, durch die Früchte der eigenen Arbeit.

Mein ureigenstes Interesse besteht also darin, Ihnen die Möglichkeit zu nehmen, mich sanktionieren zu können. Das ist mit bloßer Pflichterfüllung nicht getan, denn immer kann etwas dazwischen kommen und ich wäre dabei voll und ganz Ihrer Gnade ausgeliefert. Sie entscheiden, ob die Gründe dafür wichtig genug sind, das Damoklesschwert nicht auf mich hernieder fallen zu lassen. Eine solche Option kann ich nur dankend ablehnen.

Ich betone es gerne noch einmal: Wenn Sie eine Stelle für mich haben, die für mich von Interesse ist, dann scheuen Sie sich nicht, sie mir zu unterbreiten. Wenn Sie Ideen haben, wie meine Bewerbungsbemühungen Erfolg versprechender sein können, äußern Sie sie. Inwiefern Sie hierbei jedoch auf Druck, Zwang, Entrechtung und vor allem Strafen zurück greifen müssen, erschließt sich mir nicht. Wir verfolgen beide das selbe Ziel, wozu braucht es dazu ein sanktionsfähiges Rechtsverhältnis? Die Herbeiführung eines sanktionsfähigen Rechtsverhältnisses ist nicht erforderlich sondern eher kontraproduktiv, weil ich meine ganze Energie, bereits aus purem Selbstschutz, in dessen Abwehr stecken müste. Insbesondere, da ich nicht damit einverstanden bin, dass Sie für mich entscheiden möchten, für wen ich wann und unter welchen Bedingungen zu arbeiten habe. Dieses Recht gestehe ich Ihnen nicht zu, denn ich weiß selbst, was gut für mich ist und was ich mit meiner Weltanschauung vereinbaren kann. Ihre Eingliederungsvereinbarung bringt für mich überhaupt keine Vorteile. Es widerspricht auch in jeder Hinsicht meinem Gerechtigkeitssinn, überhaupt die Opfer einer desaströsen Arbeitspolitik zu entrechten, zu zwingen und zu bestrafen, womit ich sowohl inhaltlich als auch formell mit den Dingen, die Sie mit mir „vereinbaren“ wollten, nicht einverstanden bin.

Ich bitte Sie daher, meine Entscheidung, die Eingliederungsvereinbarung nicht zu unterzeichnen, zu respektieren. Um es mit den für Sie verbindlichen Gesetzen auszudrücken …: 1) Eine Eingliederungsvereinbarung ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag nach § 53 SGB X 2) Die Bundesagentur für Arbeit gab in ihren „fachlichen Anweisungen“ letztes Jahr folgendes bekannt: „Es wurde klargestellt, dass es sich bei der Eingliederungsvereinbarung um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag als Austauschvertrag im Sinne des § 55 SGB X handelt.“ – HEGA 08/2012 – 08 – Fachliche Hinweise zu den §§ 12 und 15 SGB II 3) Ein Austauschvertrag beinhaltet Leistungen und Gegenleistungen beider Vertragsparteien.

Der Verweis auf die Möglichkeit zur gesonderten Antragstellung für Leistungen (Bewerbungskosten), über den Sie dann ebenso gesondert entscheiden, oder die Erklärung, mir Stellenangebote zu unterbreiten, stellt keine adäquate Leistungserbringung dar. Insbesondere Letzteres ist schlicht und ergreifend Ihre Aufgabe, Ihre Daseinsberechtigung als Behörde und bedarf keiner vertraglichen Regelung. Ihre Leistungen sind damit ein reines Placebo. 4) Die in der Rechtsfolgenbelehrung vorgesehenen Sanktionen stellen Vertragsstrafen dar, die einseitig gegen mich ausgerichtet sind. Für Sie sind hingegen keine Vertragsstrafen vorgesehen. 5) Demnach trage ich, einzig und allein, die volle Last des Vertrages, was dem Zweck der Eingliederungsvereinbarung gem. § 55 SGB X widerspricht. 6) Stehen Leistung und Gegenleistung in einem nicht ausgeglichenen Verhältnis, ist ein Vertrag nach § 138 BGB sittenwidrig und damit nichtig. Insbesondere wenn er erzwungen wird. 7) Nach § 154 BGB ist ein Rechtsgeschäft ebenso nichtig, solange ein offener Einigungsmangel besteht. Diesen habe ich Ihnen bereits grob umschrieben.

Es besteht folglich ein offener Dissens, womit eine solche Eingliederungsvereinbarung niemals rechtskräftig zustande kommen könnte. 8) § 58 Abs. 1 SGB X schreibt vor, dass ein Vertrag nichtig ist, sobald sich dies aus einer Vorschrift des BGB ergibt. Die von Ihnen vorgelegte Eingliederungsvereinbarung wäre demgemäß bereits von Anfang an nichtig. (Siehe insbesondere die Punkte 6 und 7) 9) Um Rechtskraft entfalten zu können, muss ein Vertrag von beiden Vertragsparteien durch Abgabe einer Willenserklärung – freiwillig – geschlossen werden. Diese Freiwilligkeit wird durch Zwang zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung nach § 2 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 15 Abs. 1 SGB II untergraben. Demnach offenbart die Eingliederungsvereinbarung einen Rechtsmangel in Sachen Vertragsfreiheit. Das Wesen der Vertragsfreiheit umschrieb das BVerfG mit seiner Entscheidung vom 06.02.2001 (1 BvR 12/92) wie folgt: a) (…) Bei besonders einseitiger Lastenverteilung und einer erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner muss das Recht jedoch auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verkehrt. Fremdbestimmung beschreibt – wohlgemerkt in nur einem Wort – den Charakter einer „handelsüblichen“ Eingliederungsvereinbarung vollständig und in äußerst zutreffender Weise. 10) Das Grundrecht auf Vertragsautonomie ergibt sich aus dem Recht auf Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 GG.

Demnach darf die Vertragsfreiheit nur unter Beachtung des Zitiergebots gem. Art. 19 Abs. 1 GG eingeschränkt, aber nicht, wie in § 2 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 15 Abs. 1 SGB II vorgeschrieben, unter Beachtung des Abs. 2 (Art. 19 GG) vollständig aufgehoben und daher in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Der Zwang zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung ist daher null und nichtig. Ich habe jedes Recht der Welt, die Zustimmung unter meine nahezu vollständige Entrechtung zu verweigern und Ihre, von vornherein ohnehin ungültige, Eingliederungsvereinbarung nicht zu unterzeichnen. Gleichwohl verbiete ich Ihnen hiermit ausdrücklich jeden Eingriff in meine Grundund Menschenrechte.

Denken Sie bitte gar nicht erst daran, mein Grundrecht auf Vertragsfreiheit durch einen ersetzenden Verwaltungsakt gem. § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II zu unterlaufen. Dies wäre eine Entmündigung, was Ihren Ermessensspielraum deutlich übersteigt. Dies ergibt sich auch aus dem eigentlichen (zumindest offiziellen) Ziel, definiert in § 1 Abs. 1 SGB II, wonach eine Lebensführung die der Würde des Menschen entspricht, ermöglicht werden soll und damit Sanktionen aus §§ 31 ff SGB II, bzw. ein sanktionsfähiges Rechtsverhältnis generell, welches auf einseitigem Zwang basiert und die damit einher gehende menschenunwürdige Bevormundung, ad absurdum führt.

Unter Beachtung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09), wonach das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für unverfügbar erklärt und Ihrer Behörde eine Gewährleistungspflicht auferlegt wurde, wird mit dem Versuch, dieses Grundrecht per Verwaltungsakt eben doch verfügbar zu machen, eine eindeutige Grenze überschritten. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind für Sie bindend, denn ganz besonders diese – es handelt sich immerhin um die höchste Instanz im Lande – sind Gesetz. Um es auf gut deutsch zu sagen: Sie dürfen gerne mit mir kooperieren, mich aber nicht befehligen und bevormunden. Meine Freiheit und mein Recht auf Selbstbestimmung halte ich für ebenso wenig verhandelbar, wie meine Würde als Vertreter der Spezies, der auch Sie angehören.

Ich weiß Ihre Rechte vollständig anzuerkennen und diese nicht an Bedingungen zu knüpfen, die ich mir ausdenke. Darum bin ich äußerst gespannt, ob dies auf Gegenseitigkeit beruht oder ob Ihr Menschsein das meine übersteigt. Um meinen guten Willen zu bekunden, bekräftige ich hiermit meine ausdrückliche Bereitschaft, mit Ihnen eine ausgewogene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, welche mich nicht in der Ausübung oder Gewährleistung meiner Grund- und Menschenrechte einschränkt und (deshalb) den vollständigen Verzicht auf Sanktionen vorsieht. Wenn Sie an einer Neufassung interessiert sind, bin ich Ihnen gerne bei der Ausarbeitung behilflich. Eines der beiden Exemplare, welche Sie mir am 07.05.2013 aushändigten, erhalten Sie für Ihre Unterlagen zurück.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Quelle:

http://grundrechte-brandbrief.de/EGV-Abwehrschreiben-T.F..pdf

http://grundrechte-brandbrief.de/BUKA-weiteres2-weitere-Mitstreiter.htm

 

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Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Norbertschulze, December 27, 2016 at 02:09PM

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