Samstag, 31. Oktober 2015

Gespräch mit der Geschäftsführung des Jobcenters Mitte

Am 01.09.2015 hatte ich mir unverlangt zugesendete Lebensmittelgutscheine ans Amt zurückgeschickt - mit der Bitte um ein Gespräch!

Am 09.09.2015 wurde ich von der Geschäftsführung mit einem sehr freundlichen und entgegenkommenden Schreiben zum Gespräch eingeladen, welches dann am 24.09.2015 auch stattgefunden hat.

Im Gespräch bin ich gebeten worden, mit dem Hungern aufzuhören und die Situation zu deeskalieren. 

Hier ist jetzt meine Antwort »
Ralph Boes
Berlin, den 27.10.2015
Sehr geehrter Herr Xxxxxx –
zunächst eine kurze Entschuldigung, weil ich noch nicht geantwortet habe.
Es sind so viele, auch widersprüchliche, Empfindungen, die ich habe. Da wollte ich nichts sagen, bevor ich ganz mit mir im Reinen bin. Und angesichts der vielfältigen Dimensionen des Themas ist das schwer.
Außerdem fordert der Hunger seinen Tribut. Nach über 100 Tagen des Hungerns ist es absolut nicht einfach, noch zu schreiben …
Aber, es ist gut, dass ich so noch zum Denken gezwungen werde. Ich habe versprochen, mich zu den offen stehenden Fragen zu äußern, und so werde ich das jetzt hier tun. Alle durch die Verzögerung entstandenen Unannehmlichkeiten bitte ich zu entschuldigen.
Zunächst möchte ich noch einmal danken für die sehr freundliche Einladung zum Gespräch am 24.09.2015.
Wir konnten unser Gespräch dann zwar nicht ganz in dem beabsichtigten Freisinn durchführen, weil uns dazu naturgemäß die Übung fehlte (vielleicht braucht es in solchen Konfliktsituationen einen Moderator, dass man nicht zu sehr zusammenprallt), trotzdem war mir diese Einladung und die Stimmung des Briefes, durch den sie erfolgte, sehr bedeutend – und ich wäre froh, wenn wir trotz aller Unterschiedlichkeiten in der Auffassung weiter eine Basis des offenen Gespräches pflegen könnten.
Doch nun zum Thema:
Ich wurde gebeten, zu deeskalieren.
Zuerst möchte ich etwas zu dieser Bitte sagen.
Sie hat für mich eine gewisse Schwierigkeit, weil sie unterstellt, dass ICH der "Eskalator" bin. Es sind aber DREI Akteure, die in Betracht zu ziehen sind:
Erstens der "Gesetzgeber", der zunehmend die Verfassung und die Menschenrechte außer Acht lässt und sich zunehmend über uns Menschen als Verfügungsberechtigter geriert.
Zweitens eine Behörde, die bisher alle mein Handeln begründenden "wichtigen Argumente"
- die Verfassungswidrigkeit des Arbeitsbegriffes und der Sanktionen in Hartz IV
- die Verfassungswidrigkeit ihrer eigenen Wirkungsbasis
- die Unangemessenheit der Sanktionen in meinem Fall
stillschweigend übergeht. [1]
Und erst in dritter Linie komme ICH als Täter in Betracht.
Nur im Blick auf diese DREI Akteure kann über Eskalation und Deeskalation gesprochen werden. Und nur im Blick auf diese DREI Akteure will ich MEINEN Beitrag zur Deeskalation bestimmen.
Bezüglich Akteur 1 habe ich schon deeskaliert, in so fern, als ich alles unternommen habe, um das Gesetz nach Karlsruhe zu bringen, was über den Umweg von Gotha jetzt ja in einem ersten Schritt auch gelungen ist.
Bezüglich des Akteures 2 habe ich immer versucht, den schmalen Grad zwischen Eskalation und Deeskalation einzuhalten: Bezüglich der Sachfragen habe ich selbstverständlich provoziert so gut es ging – auf der Ebene der menschlichen Begegnung habe ich aber immer versucht, so ernst und entschieden, wie es die Sache erfordert, aber auch so herzlich und verständnisvoll wie möglich und nicht beleidigend zu sein.
Auch mit mir selbst (Akteur 3) bin ich immer möglichst deeskalierend für uns alle umgegangen:
Seit über drei Jahren werde ich sanktioniert – davon seit über 2 Jahren durchgehend um 100 bis 200 Prozent. D.h., dass ich auf Grund meines Wirkens im Sinne des Grundgesetzes seit dieser Zeit kein Geld für Essen, Wohnung und Krankenkasse erhalte.
Dass ich da überhaupt noch lebe, ist eine Folge bereits gelebter Deeskalation …
Und dass ich jetzt "nur" hungere und nicht zugleich ohne Obdach und ohne Krankenkasse bin, mich also nur ein Drittel der für den Hartz IV-Bezieher gewöhnlich vorgesehenen Totalsanktionen (Bestrafung) trifft, ist, nebst der anscheinend unverwüstlichen Gesundheit meines Körpers, ein weiteres Angebot der Deeskalation.
                   
Sehr geehrter Herr Xxxxxxx –
Ich sehe nicht, wie ICH da weiter deeskalieren kann. Zumal, was ICH durchmache, nur ein GERINGER Teil dessen ist, was zig-tausende andere von Sanktionen Betroffene UNGEMILDERT durchzustehen haben.
Ich habe mich deshalb entschieden, auf Ihre Angebote (mit Einschränkung) NICHT einzugehen.
Die Essensmarken stützen nur ein System, welches ich im eminentesten Sinn für menschenrechts- und verfassungswidrig halte.
S. "Würde oder Leben" - Zu Wesen und Bestimmung der Lebensmittegutscheine [2]
S. aber auch Anmerkung [3]

Und dass es noch Sinn macht, eine passende "sozialversicherungspflichtige" Arbeit für mich zu finden, wage ich zu bezweifeln:
Täglich wächst in mir die Sorge vor der inzwischen direkt ungeheuren Schieflage, in der unser Staat und unser Gemeinwesen sich befinden,
Aufrüstung und Kriegshetze, Flüchtlingsproblematik und Bürgerkriegsgefahr,
ESM, TTIP, Euro und Europa, Hartz IV …
Nicht weniger wächst die Bestürzung über unsere "Eliten" im Geld- und Bankenwesen, in Wirtschaft, Politik und Presse, über ihre Prinzipien- und Ideenlosigkeit und über ihre Anfälligkeit für Machtüberhebung und für Korruption …
Da braucht es jetzt einfach Menschen, die sich für das Ganze einsetzen [4] – rückhaltlos und ohne Gewinnabsichten – wenn letzteres aus neoliberalem Gesichtspunkten auch direkt als Geisteskrankheit gebranntmarkt wird. [5]
Auf der einen Seite stehen so für mich die Aufgaben – auf der anderen werde ich gehungert …
Ein Konflikt muss so lange ausgehalten werden, bis eine Lösung gefunden ist.
Vielleicht sind SIE ja ein Teil der Lösung des Problems …
Mit freundlichem Gruß,
aus dem 117. Hungertag
Ralph Boes
----
P.s.:
Am 13.10.2015 habe ich mich bei Ihnen beschwert, dass im Widerspruchbescheid vom 02.10.2015 auf die von mir vorgebrachten Gründe (Schikaneparagraph, Nicht-Anwendbarkeit der Sanktionen im Sinne ihres Zweckes auf mich) nicht eingegangen worden ist.
Am selben Tag (13.10.2015) habe ich bei der Widerspruchsstelle einen weiteren, die jetzige Sanktion betreffenden Widerspruch vorgelegt.
Unter dem Grundsatz, dass ich MEINEN Prinzipien die Treue zu halten habe und SIE DEN IHREN, habe ich immer versucht, Brücken auch im Sinne IHRER Prinzipien zu bauen. [6]
Ich bitte Sie, die im Widerspruch gestellte Frage unter Beachtung der für SIE geltenden Gesetze (Was ist der Sinn der Sanktionen? Können sie zielführend bei mir sein?) in ihre Betrachtungen mit einzubeziehen …

 

[1] Auf wichtige Gründe nicht einzugehen, vor allem wenn es um lebenswichtige Dinge geht, ist, als AUSLÖSCHUNG eines Menschen, eine Form direkter Gewaltanwendung, auch wenn man sich dabei hinter Formalismen versteckt.
[3] Es gibt allerdings eine Ausnahme, unter der ich sie doch in Anspruch nehmen könnte:
Es ist mir bewusst, dass auch in IHREN Kreisen Kritik an den Lebensmittelgutscheinen besteht – und sei es nur aus Kosten- und Verwaltungsgründen. Außerdem gibt es längst ein die Flüchtlinge betreffendes, ihre Verwendung unterbindendes Gerichtsurteil dazu. Ich würde dem Erhalt der Essengutscheine zustimmen unter der Bedingung, dass wir gemeinsam ein entsprechend kritisches Schreiben dazu an die Regierung verfassen. Das ist nat. nur möglich, wenn Sie selbst die Gutscheine kritisch sehen.
[5] Der Schlachtruf des Niedersinns und der A-Sozialität: "Wenn jeder für sich sorgt, ist für alle gesorgt." (Westerwelle)
[6] Selbst die Darlegung der Verfassungswidrigkeit der Sanktionen ist ein Versuch in DIESER Richtung …


Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Die Wuerde des Menschen, October 31, 2015 at 12:51PM

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