Dienstag, 15. September 2015

Arbeitssuchende EU-Ausländer haben keinen Hartz IV Anspruch

EU Bürger, die in Deutschland eine Arbeit suchen, haben keinen Anspruch auf Hartz IV. Sie haben auch keinen Anspruch auf eine Unterstützung beim Zugang zum Arbeitsmarkt, also auf Eingliederungsleistungen.

Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 15.09.2015 entschieden.

Geklagt hatte eine Familie mit schwedischer Staatsbürgerschaft. Ihr wurde vom Jobcenter in Berlin die Hartz IV Leistung verweigert. Die Klage landete vor dem Bundessozialgericht, das den Fall an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg verwies.

Aber: auch in dem Fall, dass ein EU-Bürger in Deutschland noch nicht gearbeitet hat oder länger als sechs Monate arbeitslos war, darf er nicht ausgewiesen werden, wenn er nachweist, dass er weiterhin Arbeit sucht und seine Erfolgschancen gut stehen.

Deutschland ist dann jedoch nicht verpflichtet, weiter Hartz IV zu bewilligen.

Kritik
Das Urteil fand unterschiedliches Echo: „Wer zu uns kommt und nach Arbeit sucht, braucht Unterstützung. Das ist in einem sozialen Europa geboten.“ Das kam von Seiten der Partei „Die Grünen“.
Das Sozialsystem dürfe keine Fehlanreize schaffen. Ein sofortiger Hartz-IV-Anspruch für EU-Ausländer würde „die Sozialkassen maßlos überfordern“. Das Geld werde für Asylbewerber und Flüchtlinge benötigt, die Hilfe erhalten müssten. Dies kam von Seiten der CDU.

Das Urteil des EuGH im Detail
Vorlagefragen
Das Bundessozialgericht (BSG) hat das Klageverfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die und deren Antworten wir vereinfacht, ohne Juristensprache, wiedergeben:

1. Sind – gegebenenfalls in welchem Umfang – Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots durch Bestimmungen in nationalen Rechtsvorschriften möglich, nach denen der Zugang zu diesen Sozialleistungen ausnahmslos nicht besteht, wenn sich ein Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in dem anderen Mitgliedstaat allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt?

2. Steht Europarecht einer nationalen Bestimmung (sie dient der Existenzsicherung und erleichtert gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt) entgegen, die Unionsbürgern, welche sich als Arbeitsuchende auf die Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts berufen können, eine Sozialleistung verweigert, und zwar

  • ausnahmslos
  • für die Zeit eines Aufenthaltsrechts nur zur Arbeitsuche und
  • unabhängig von der Verbindung mit dem Aufnahmestaat.

Der Europäische Gerichtshof hat zunächst festgestellt, dass der Kläger und seine Familie ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchende in Deutschland haben.

Der EuGh arbeitet heraus, dass das Bundessozialgericht mit seinen Fragen wissen will, ob eine nationale Regelung, die arbeitsuchende Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter Leistungen ausschließt, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, mit Europarecht vereinbar ist.

Sozialhilfe oder Arbeitsförderung?
Anhand welcher Regel die entsprechende Vereinbarkeit zu beurteilen ist, hängt nach Ansicht des EuGH davon ab, ob die Leistungen als Sozialhilfe oder als Maßnahmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, einzustufen sind.

Insoweit genügt dem EuGH jedoch die Feststellung, dass das vorlegende Gericht, also das Bundessozialgericht, selbst die im Ausgangsverfahren streitigen Leistungen als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ eingestuft hat. Das BSG habe insoweit ausgeführt, dass diese Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts von Personen dienten, die ihn nicht selbst bestreiten könnten, und beitragsunabhängig durch Steuermittel finanziert würden.

Die betreffenden Leistungen sind deshalb nach Auffassung des EuGh Leistungen der Sozialhilfe, selbst wenn sie Teil eines Systems sind, das außerdem Leistungen zur Erleichterung der Arbeitsuche vorsieht.
Solche Leistungen fallen nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs auch unter den Begriff „Sozialhilfe“ im Sinne des Europarechts. Dieser Begriff bezieht sich nämlich – so der EuGH – auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann.

Im vorliegenden Fall sei im Übrigen festzustellen, dass die überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht, das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich – so der EuGH – dass die betreffenden Leistungen nicht als finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen, eingestuft werden können, sondern als „Sozialhilfe“ anzusehen sind.

Sind Deutsche mit anderen EU-Ausländern gleichzubehandeln?
Nachdem der EuGh die Hartz IV Leistungen (ALG II) als besondere beitragsunabhängige Geldleistung eingestuft hat, wendet er sich der eigentlichen Frage zu, ob Europarecht der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats Arbeit suchen, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.

Es muss ein Aufenthaltsrecht bestehen
Insoweit weist er zunächst darauf hin, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats legal ist.

Ließe man nämlich zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, so der EuGh, liefe dies dem Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern.

Um feststellen zu können, ob Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen auf der Grundlage der Ausnahmebestimmung des Europarechts verweigert werden dürfen, müsse daher vorab geprüft werden, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz anwendbar sei, und damit, ob sich der betreffende Unionsbürger rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält.

Aufenthaltsrecht besteht bei Arbeitssuche
Nur zwei Vorschriften kämen in Betracht, Arbeitsuchenden in der Situation der Kläger möglicherweise ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat zu verleihen.

Einem Erwerbstätigen bleibt – so stellt der EuGH fest – wenn er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt, seine Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate erhalten. Während dieses Zeitraums behalte der betreffende Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat sein Aufenthaltsrecht und könne sich folglich auf das Gleichbehandlungsgebot berufen.

Unionsbürger, die die Erwerbstätigeneigenschaft behalten, haben – so der EuGh – während des genannten Zeitraums von mindestens sechs Monaten Anspruch auf Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen (Anmerkung: also auf Hartz IV Leistungen).

Im vorliegenden Fall seien den Klägern die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate nach dem Ende ihrer letzten Beschäftigung erhalten geblieben. Diese Eigenschaft hätten sie jedoch zu dem Zeitpunkt, zu dem ihnen die Gewährung der streitigen Leistungen versagt wurde, nicht mehr besessen.
Der EuGH betont in diesem Zusammenhang: Ein Unionsbürger, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, um Arbeit zu suchen, darf nicht ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.
Die Kläger hätten somit ein Aufenthaltsrecht, das ihnen grundsätzlich einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen verschaffe; der Aufnahmemitgliedstaat könne sich in diesem Fall aber auf eine Ausnahmebestimmung im Europarecht berufen, um dem betreffenden Unionsbürger die beantragte Sozialhilfe doch nicht zu gewähren.

Aufenthaltsrecht aufgrund Arbeitssuche gibt keinen Anspruch auf Hartz IV
Der EuGH stellt fest: Der Aufnahmemitgliedstaat darf einem Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund der Arbeitssuche zusteht, jegliche Sozialhilfeleistung verweigern.
Zwar habe der EuGH bereits entschieden, dass der Mitgliedstaat die persönlichen Umstände des Betreffenden berücksichtigen müsse, wenn er eine Ausweisung veranlassen oder feststellen wolle, dass diese Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursache; eine solche individuelle Prüfung sei aber bei einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens nicht erforderlich.

Die EU-Richtlinie 2004/38, die ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft schaffe, das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern solle, berücksichtige nämlich selbst verschiedene Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichneten, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit.

Das Kriterium, auf das sowohl § 7 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 2 Abs. 3 FreizügG/EU als auch Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 abstellten, nämlich ein Zeitraum von sechs Monaten nach Beendigung einer Erwerbstätigkeit, in dem der Anspruch auf Sozialhilfe aufrechterhalten bleibt, ermögliche es den Betroffenen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erfassen; folglich sei es geeignet, bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen im Rahmen der Grundsicherung ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz zu gewährleisten, und stehe zugleich im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Was zudem die individuelle Prüfung angehe, mit der eine umfassende Beurteilung der Frage vorgenommen werden solle, welche Belastung die Gewährung einer Leistung konkret für das gesamte im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Sozialhilfesystem darstellen würde,sei festzustellen, dass die einem einzigen Antragsteller gewährte Hilfe schwerlich als „unangemessene Inanspruchnahme“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 eingestuft werden könne; eine solche Inanspruchnahme könne nämlich den betreffenden Mitgliedstaat nicht infolge eines einzelnen Antrags, sondern nur nach Aufsummierung sämtlicher bei ihm gestellten Einzelanträge belasten.

Ergebnis
Im Ergebnis stellt der EuGH fest, dass Europarecht der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.

Das heißt im Klartext: wer sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten darf, kann vom deutschen Staat von Sozialleistungen, sprich Hartz IV, ausgeschlossen werden.

Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Sozialhilfe24.de, September 15, 2015 at 10:36PM

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