Montag, 21. September 2015

Wir sollten Arbeits- und Freizeit nicht trennen

Nächstes Jahr stimmt die Schweiz über ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Sind wir darauf angewiesen, weil uns Roboter bald die Arbeit wegnehmen? Oder weil wir endlich die Künstlerin oder den Wissenschaftler in uns entdecken wollen? Oder weil wir ganz einfach faul sind? In ihrem Buch «Was fehlt, wenn alles da ist?» geben Daniel Häni und Philip Kovce auf diese Fragen überraschende Antworten. Zum Interview erklären sie im Video, was für sie ein menschenwürdiges Leben ist (unten).

Daniel Häni, Philip Kovce, wenn es ums Grundeinkommen geht, wird meist über Geld gesprochen. Ihr Buch beschäftigt sich vor allem mit Philosophie. Weshalb?
Kovce: Das bedingungslose Grundeinkommen wirft für den Einzelnen nicht mehr Geld ab, aber viele Fragen auf. Deshalb haben wir kein Zahlen-, sondern ein Fragebuch geschrieben.

Sie zweifeln selbst daran, dass die Initiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» vom Volk angenommen werden wird. Lohnt sich der Aufwand, nur um Fragen zu stellen?
Häni: Demokratie ist kein Gewinnspiel, sondern eine Bildungsveranstaltung. Es wäre vermessen, bei dieser Abstimmung auf Anhieb mit einer Mehrheit zu rechnen. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass ein Grundeinkommen früher oder später kommen wird. Umso wichtiger ist es, die Fragen jetzt zu stellen.

Warum sollte das Grundeinkommen ohnehin kommen?
Häni: Die Wirtschaft ist darauf angewiesen, dass die Menschen konsumieren. Wenn jedoch immer mehr Jobs von Maschinen erledigt werden, dann muss man den Menschen ein Grundeinkommen gewähren, damit sie sich weiterhin Güter und Dienstleistungen kaufen können. Mit der Volksinitiative wollen wir dafür sorgen, dass das Grundeinkommen nicht durch die Hintertür eingeführt, sondern von uns demokratisch mitgestaltet wird.

Geld sei gar nicht das Problem, schreiben Sie, sondern die Bedingungslosigkeit. Was meinen Sie damit?
Philip Kovce (links) und Daniel Häni erklären, warum sie das bedingungslose Grundeinkommen für nötig halten. Häni: Bedingungslosigkeit bedeutet Machtumverteilung. Wer gegen das bedingungslose Grundeinkommen ist, der ist dagegen, dass andere selbstbestimmter leben können. Nur ist dieses Argument nicht so populär. Stattdessen wird lieber behauptet, das Grundeinkommen sei nicht finanzierbar …

Kovce: … oder die Gegner kommen mit der Verschwörungstheorie, dass der Mensch ja ohnehin von Natur aus faul sei und sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen bloss in die Hängematte legen würde. Dabei werden Menschen nur faul, wenn sie dauerhaft fremdbestimmt Aufgaben zu erledigen haben, die ihnen eigentlich zuwider sind.

Haben wir dank des Sozialstaats nicht heute bereits de facto ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Kovce: Ja, aber der Sozialstaat droht immer mehr zu einem Schmierentheater zu verkommen. Die einen müssen so tun, als ob sie nicht arbeiten könnten, obwohl sie arbeiten wollten. Und gleichzeitig müssen andere begutachten, ob diese Menschen ihr Nichtkönnen glaubwürdig darstellen. Das Ganze ist hochgradig absurd …

Häni: … zumal es keinen Sinn macht zu überprüfen, ob jemand ein Existenzminimum braucht. Was jeder unbedingt braucht, gewährt ihm das Grundeinkommen bedingungslos.

Und was sagen Sie den Gegnern der Initiative, die behaupten, das sei gar nicht finanzierbar?
Häni: Die Finanzierung ist ein Nullsummenspiel. Was der Staat für das Grundeinkommen ausgibt, sparen er und die Unternehmen anderswo ein. Die Gesamtkosten bleiben gleich.

Schön und gut. Aber wer würde dann noch morgens um 4 Uhr aufstehen, um Brötchen zu backen? Wer wird die Toiletten reinigen?
Häni: Wenn diese Arbeiten für die Gesellschaft wichtig sind – und davon gehe ich aus –, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie auch die nötige Wertschätzung erhalten.

Mehr Wertschätzung heisst: Sie werden besser bezahlt?
Kovce: Entweder bezahlen wir diese Jobs besser, oder wir finden Mittel und Wege, sie durch Maschinen zu ersetzen – oder wir müssen sie dann eben selbst verrichten. Ein Grundeinkommen würde schlagartig aufzeigen, wie wichtig viele dieser Arbeiten sind.

Würde das nicht zu einer Lohnexplosion führen, die wiederum viele Produkte unbezahlbar machen würde?
Häni: Es würde ganz einfach ein freier Markt entstehen. Und dabei käme dann heraus, welche Tätigkeiten heute unter- oder überbezahlt sind. Damit kann ich als Unternehmer sehr gut leben. Überhaupt: Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde die Unternehmen ganz entscheidend verändern.

Inwiefern?
Häni: Unternehmen würden weniger Geld für Werbung und Marketing ihrer Produkte aufwenden und mehr fürs Anwerben guter Mitarbeiter. Dazu wären sie durch den freien Markt gezwungen. Was könnte uns Besseres passieren, als dass sich Unternehmen für Mitarbeiter attraktiv machen müssen?

Wir haben ein zwiespältiges Verhältnis zum technischen Fortschritt: Einerseits freuen wir uns über unsere klugen Smartphones, andererseits haben wir Angst vor Big Brother. Aber ohne technischen Fortschritt ist ein Grundeinkommen kaum denkbar, oder?
Häni: Der technische Fortschritt ist eine Erfolgsgeschichte, wenn wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Alles, was sich berechnen lässt, wird über kurz oder lang auch automatisiert. Deshalb müssen wir uns fragen: Wo bin ich als Mensch gefragt und nicht als Maschine?

Dank Waschmaschine, Reiskocher und Staubsaugroboter ist auch die Hausarbeit effizienter geworden. Warum nutzen wir diese frei gewordene Zeit nicht heute schon?
Häni: Wir sollten nicht die Freizeit besser nutzen, sondern die Trennung von Arbeits- und Freizeit ganz aufgeben. Was wir freiwillig wollen, sollten wir während der Arbeit tun. Nur so werden wir die Aufgaben der Zukunft lösen können.

Kovce: Work-Life-Balance ist ein Schlagwort, das auf dem geistigen Niveau des Mittelalters erfunden wurde. Es tönt so modern, ist jedoch in den Begriffen einer Sklavengesellschaft gedacht. Nur Sklaven oder ausgebeutete Landarbeiter mussten sich überlegen, was sie in den wenigen Stunden Freizeit, die sie hatten, eigentlich machen wollten. Das Grundeinkommen hingegen führt dazu, dass es nie mehr Freizeit gibt, weil alle Zeit frei gestaltet werden kann.

Das wiederum führt zurück zur Frage: Wer macht die Drecksarbeit, wenn alle töpfern oder musizieren?
Häni: Wer sagt eigentlich, dass alle Menschen gern töpfern oder musizieren? Die Menschen wollen etwas tun, worin sie einen Sinn sehen und Wertschätzung erfahren.

Kovce: Da muss ich – zumindest vordergründig – meinem Kollegen widersprechen. Viele Menschen haben tatsächlich das Gefühl, sie würden am liebsten töpfern, gärtnern, musizieren oder was auch immer. Sie leben in einer Illusionsblase, in der sich alles Kreative ansammelt und als Ausrede für die unbefriedigende Erwerbsbiografie herhalten muss.

Was würde das Grundeinkommen daran ändern?
Kovce: Jeder, der meint, beispielsweise ein grosser Musiker zu sein, hätte die Chance, es tatsächlich auszuprobieren – mit dem Risiko, dass er erkennen muss, dass er es eben nicht ist.

Das Grundeinkommen würde somit die Lebenslüge von vielen zertrümmern?
Kovce: Nicht wenige müssten wahrscheinlich erkennen, dass sie einer falschen Vorstellung aufgesessen sind, von der sie das bedingungslose Grundeinkommen nun befreit. Wir haben also bloss gemeint, dass in uns ein Jimi Hendrix oder ein Albert Einstein schlummert. Aber ohne die berühmten 10 000 Stunden Üben läuft gar nichts.

Kovce: Wenn es ein Grundeinkommen gibt, dann werden aus den 10 000 Übungsstunden 20 000.

Weil der Wettbewerb unter Künstlern und Wissenschaftlern dadurch viel intensiver wird?
Kovce: Ja, und weil wir keinen Kultursektor subventionieren müssen, in dem jeder Künstler glaubt, das Anrecht zu haben, von seiner Arbeit leben zu können. Das Grundeinkommen löst den Kunstmarkt als Existenzsicherungsbörse auf, erhöht den inneren Leidensdruck – und führt endlich dazu, dass wir Kunst allein aus künstlerischen Gesichtspunkten begutachten können.

Häni: Das konstruktive Leiden der Künstler und Erfinder hängt mit der Sache selbst zusammen, nicht damit, dass sie kein Geld haben. Existenzangst wiederum führt in den allermeisten Fällen zu destruktivem Leiden. Das wollen wir beenden.



Heute ist ein mittelständischer Haushalt darauf angewiesen, dass Mann und Frau erwerbstätig sind. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen könnte der Mann versucht sein, seine Frau wieder an den Herd zu binden.
Häni: Das Grundeinkommen bezieht sich nicht auf die Familie, sondern auf die einzelnen Personen. Nicht Mann oder Frau erhalten es, sondern jeder und jede Einzelne.

Könnte das Grundeinkommen nicht als eine Art Hausfrauenlohn missverstanden werden und so die traditionelle Geschlechterteilung zementieren?
Häni : Das Grundeinkommen als Hausfrauenlohn oder Herdprämie zu deuten, ist ein irres Manöver emanzipationsresistenter Männer und paradoxerweise auch extremer Feministinnen, die eine Abhängigkeit beschwören, die das Grundeinkommen eben gerade auflöst.

Kovce: Die Frage ist doch: Wie halten wir es mit der Emanzipation? Verstehen wir darunter ein bestimmtes Verhalten der Frau, oder glauben wir, dass sie dank des Grundeinkommens selbstbestimmt entscheiden kann, wie sie sich verhalten will? Letztlich geht es darum, dass wir unser eigenes, selbstbestimmtes Leben führen können.



Wann, glauben Sie, werden wir ein Grundeinkommen haben?
Häni: Ich hoffe, es kommt spätestens mit der Pubertät meiner Enkelkinder.

Kovce: Das Grundeinkommen wird nicht mit einer Revolution, sondern pragmatisch und in kleinen Schritten kommen. Irgendwann werden wir einsehen, dass es anders gar nicht mehr geht. Sei es, weil die Wirtschaft ohne Kaufkraft kollabiert. Sei es, weil die Kreativität ohne Existenzsicherung stockt. Oder aufgrund irgendeines anderen Phänomens. Wann dies der Fall sein wird, lässt sich ebenso wenig vorhersagen wie der Zeitpunkt des Berliner Mauerfalls 1989.

Was werden Sie an Ihrem Leben ändern, sollten wir tatsächlich ein Grundeinkommen haben?
Kovce: Ich hätte dann dieses Buch nicht geschrieben.
Häni: Ich würde das Gleiche tun – einfach besser.

Daniel Häni und Philip Kovce haben zusammen das Buch zum Grundeinkommen geschrieben: «Was fehlt, wenn alles da ist? Warum das bedingungslose Grundeinkommen die richtigen Fragen stellt.».

Weg mit #agenda2010 und #tapschweiz

Quelle: via @Migrosmagazin.ch, September 21, 2015 at 03:32PM

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