Ein Mann kommt aus einem Berliner Jobcenter. Ob er ein »Grundrechtsträger« ist? Wer zum erlesenen Kreis gehört, wird willkürlich entschieden.
Ein vergessener Termin, zu wenige Bewerbungen, ein abgelehntes »Angebot«: Jährlich verhängen Jobcenter über eine Million Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher. Jeden Monat setzen sie rund 7.000 Menschen auf null. Das heißt: Obwohl bedürftig, erhalten Betroffene weder Bargeld noch Miete und Krankenversicherung. Sie können zwar Lebensmittelgutscheine im Höchstwert von 196 Euro pro Monat beantragen. Gewähren müssen Jobcenter diese aber nicht. Die Folge in jedem Fall: Miete, Strom, Fahrgeld, Hygieneartikel fallen ersatzlos weg.
Nicht nur Aktivisten, auch die Sozialgerichte in Dresden und Gotha werteten die Praxis kürzlich als Verstoß gegen Grund- und Menschenrechte. Wann sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit einer entsprechenden Beschlussvorlage aus Gotha vom Mai befasst, ist unklar. Darum appelliert die Linksfraktion im Bundestag erneut an Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die Hartz-IV-Strafen »sofort« auszusetzen. Am 1. Oktober soll das Parlament – nicht zum ersten Mal – über zwei Anträge der Linken abstimmen, wie aus dem Büro der Vorsitzenden Katja Kipping zu erfahren war. Doch trotz gravierender Kritik und juristischer Zweifel ist mit einer Abkehr von der Praxis nicht zu rechnen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat seine eigene Rechtsauffassung: Alles völlig verfassungskonform, behauptete Behördensprecher Christian Westhoff jetzt auf Nachfrage von jW.
Dafür interpretierte er drei Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 2010, 2012 und 2014 auf eher fragwürdige Weise.
So entschieden die Karlsruher Richter vergangenes Jahr, der Gesetzgeber müsse »bei der Ausgestaltung der Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz die Bedarfe der Hilfebedürftigen zeit- und realitätsgerecht erfassen«. Neben der physischen Existenz sei »jedem Grundrechtsträger stets ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sicherzustellen«, betont das BVerfG in allen drei Urteilen. Der Anspruch darauf sei »absolut« und »ein Menschenrecht«. Es sei »entscheidend, die Hilfe an konkreten Bedarfen auszurichten« und den »Rechtsanspruch« darauf »auf Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu ermitteln«, konkretisiert es.
Weil dies fehlte, kippte Karlsruhe 2012 das Asylbewerberleistungsgesetz: Es sei »verfassungswidrig«, aus »migrationspolitischen Erwägungen« weniger als das mit Hartz IV ermittelte Minimum zu zahlen. Zwar könnten Leistungen, ausgenommen ein Mindestbetrag an Bargeld »zur Deckung persönlicher Bedürfnisse«, als Sachleistungen bewilligt werden. Doch auch diese müssten »nachvollziehbar« Ernährung, Unterkunft, Heizung, Gesundheits- und Körperpflege sowie Haushaltsgerät ausweisen.
Klar ist somit: Für die Regierung gehören »pflichtverletzende« Hartz-IV-Bezieher, anders als Strafgefangene, nicht zur Gruppe der »Grundrechtsträger«. Weder für die geminderten Leistungen noch für mögliche »Essensmarken« gibt es eine Bedarfsberechnung. BMAS-Sprecher Westhoff versuchte, die Karlsruher Urteile auf seine Weise auszulegen.
Keineswegs habe das BVerfG dabei daran gedacht, die Höhe angemessener Sachleistungen zu bestimmen. Und: Schließlich bekämen Mütter mit Kindern Essensmarken. Dies habe die Bundesagentur für Arbeit (BA) in »fachlichen Hinweisen« geregelt. Der Umkehrschluss: Vollsanktionierte ohne Kinder könnten ruhig – ohne Wohngeld und medizinische Hilfe – unter der Brücke verhungern. Westhoff beschwichtigte: Auf jeden Fall erhalte keine Gutscheine, wer über »Schonvermögen« verfüge. Bei Hartz IV sind das etwa ein altes Auto, ein Computer oder eine bessere Couch.
Die Krux ist wohl der »Umkehrschluss«. Der ist in der Juristerei nicht klar geregelt. Während Westhoff sich dieses Mittels bezüglich des Urteils zum Asylbewerberleistungsgesetz bedient – wie es ausdrücklich möglich ist –, schließt er ihn für Sanktionen völlig aus. Wörtlich schreibt er: »Die gesetzlichen Bestimmungen zu Pflichtverletzungen und sich daraus ergebenden Rechtsfolgen (Anm.d.Red.: Sanktionen) werden durch die Urteile nicht in Frage gestellt«. Betroffene müssen somit auf Karlsruhe hoffen. Das kann Jahre dauern […]
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Jungewelt.de, September 23, 2015 at 11:57AM
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