Freitag, 11. September 2015

Die IV benachteiligt Teilzeitangestellte


Eine umstrittene Methode zur Ermittlung der Invalidität stellt Teilzeit Arbeitende schlechter. Betroffen sind fast nur Frauen. Aus Kostengründen will der Bundesrat dies nicht ändern.

Teilzeit arbeiten ist in der Schweiz sehr beliebt. Mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen hat ein Pensum von unter 90 Prozent. Die wenigsten wissen jedoch, dass sie im Fall einer Invalidität nur mangelhaft geschützt sind. Selbst bei identischer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bekommen Teilzeitbeschäftigte meist eine kleinere Invalidenrente als voll Erwerbstätige.

Ursache dieser Ungleichbehandlung ist die Art und Weise, wie die Invalidität von Teilzeitbeschäftigten ermittelt wird. Wie das konkret geht, zeigt das folgende Beispiel.

Angenommen, eine Frau arbeitet 60 Prozent, in der restlichen Zeit betreut sie ihre Kinder und erledigt den Haushalt. Sie erzielt mit ihrem Teilpensum einen Jahreslohn von 50 000 Franken, nach einer Erkrankung kann sie nur noch 20 000 Franken verdienen. Bei voller Gesundheit würde sie ihr bisheriges Teilpensum beibehalten.

Umstrittene Methode
Die Invalidität wird nun in zwei Schritten nach der sogenannten gemischten Methode ermittelt. Zuerst wird die Einschränkung im Erwerbsbereich mittels Lohnvergleich Vorher/Nachher (50 000–20 000 Franken) gemessen. Daraus resultiert im vorliegenden Beispiel ein Invaliditätsgrad von 60 Prozent. Davon werden wegen des Teilzeitpensums aber nur 60 Prozent angerechnet; so reduziert sich der Invaliditätsgrad auf 36 Prozent.

In einem zweiten Schritt wird eruiert, wie viel die Frau trotz gesundheitlicher Einschränkung in den verbleibenden 40 Prozent für Haushalt und Kinderbetreuung noch leisten kann. Die IV geht jedoch regelmässig davon aus, dass andere Familienmitglieder im Haushalt mithelfen und die Einschränkung damit geringer ausfällt. Im vorliegenden Beispiel wird der Frau nur eine Einbusse von 30 Prozent anerkannt und diese wiederum auf das Pensum umgerechnet. Resultat: 12 Prozent Invalidität (40 Prozent von 30 Prozent). Alles in allem erreicht die berufstätige Mutter einen Invaliditätsgrad von 48 Prozent (36 Prozent plus 12 Prozent) und hat damit Anspruch auf eine Viertelrente.

Im Vergleich dazu würde eine Vollzeitangestellte mit dem gleichen Lohn und der gleichen gesundheitlichen Einschränkung auf einen Invaliditätsgrad von 60 Prozent kommen und damit auf eine Dreiviertelrente.

Eine Viertelrente statt einer Dreiviertelrente: Dieser Unterschied ist keine Ausnahme. Das Beispiel zeigt, wie stark Teilzeitangestellte gegenüber voll Erwerbstätigen in der IV benachteiligt sind. Deshalb stösst die vom Bundesgericht 1999 definierte Invaliditätsbemessung bei zahlreichen Fachleuten auf Ablehnung.

Zu den Kritikerinnen gehört etwa Rechtsanwältin Andrea Mengis von der Behindertenselbsthilfeorganisation Procap. Besonders stossend findet Mengis, dass die Invalidität auf der Basis des Teilzeitlohns ermittelt und das Resultat nochmals auf das Teilpensum umgerechnet wird. So werde das Teilzeitpensum doppelt berücksichtigt. Wegen dieser doppelten Gewichtung erreichen viele Teilzeitangestellte trotz starker Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit nicht einmal den Mindestinvaliditätsgrad für eine kleine Teilrente.

Nicht nachvollziehbar
Auch für Ueli Kieser, Rechtsanwalt aus Zürich und Professor für Sozialversicherungsrecht an der Uni St. Gallen, ist die Art und Weise, wie die Invalidität von Teilzeitbeschäftigten gemessen wird, weder plausibel noch nachvollziehbar. Das Gesetz verlange, dass bei der Berechnung der Invalidität von jener Erwerbstätigkeit auszugehen sei, die einer Person ohne gesundheitliche Einschränkung zuzumuten sei und nicht von ihrem Pensum. Schliesslich verunmögliche die starre Handhabung der gemischten Methode, dass die gesundheitliche Einschränkung im Haushalt vollumfänglich erfasst werde, bemängelt Hardy Landolt, Anwalt in Glarus und Rechtsprofessor an der Uni St. Gallen.

Kommt dazu: Weil Frauen viel häufiger zu einem reduzierten Pensum arbeiten, sind sie von der Benachteiligung in der IV ungleich stärker betroffen als Männer. Somit würden Frauen faktisch diskriminiert, sagt Rechtsanwältin Andrea Mengis.

Das Bundesgericht weist die Rügen zurück und hat die umstrittene Doppelgewichtung des Teilzeitpensums in seiner Rechtsprechung bis jetzt stets bestätigt. Auch von einer Diskriminierung der Frauen will das oberste Gericht nichts wissen. Die gemischte Methode gelte für alle Teilzeit Arbeitenden und nicht speziell für Frauen, weshalb sie das Diskriminierungsverbot nicht verletze.

Politik hält sich zurück
Wer Teilzeit arbeite, tue dies freiwillig und müsse sich daher auch der negativen Folgen bei den Sozialversicherungen bewusst sein, schreibt das oberste Gericht in einem Urteil von 2011. Im selben Entscheid schiebt das Gericht den Ball der Politik zu: Deren Aufgabe sei es, mit einer Gesetzesänderung allfällige unerwünschte gesellschaftliche Auswirkungen zu korrigieren.

Doch die Politik hält sich zurück. In einem Anfang Juli veröffentlichten Bericht anerkennt der Bundesrat zwar, dass Teilzeit Erwerbstätige bei der IV schlechter wegkommen und zeigt mögliche Alternativen auf. Darunter befindet sich just ein Vorschlag, den das Parlament bereits 2003 gutgeheissen hatte. Dieser verlangt, dass auch bei Teilzeitangestellten die Invalidität bezogen auf eine Vollzeittätigkeit ermittelt und das Teilpensum erst in einem zweiten Schritt berücksichtigt werde. Der Vorschlag ging jedoch im Zuge der Sparmassnahmen bei der IV unter und wurde schliesslich 2007 abgeschrieben.

Dabei soll es nach Ansicht des Bundesrats auch bleiben. Denn eine Besserstellung der Teilzeitangestellten hätte Mehrkosten von mehreren Dutzend Millionen zur Folge und das vertrage sich nicht mit dem Auftrag des Parlaments, die IV zu sanieren, schreibt er im Bericht. Als Lösung schlägt er vor, künftig die berufliche und ausserberufliche Invalidität nicht mehr unabhängig voneinander zu erfassen und die Beanspruchung im Haushalt stärker zu gewichten.

Hoffen auf Strassburg
Für Rechtsanwältin Andrea Mengis sind dies lediglich kosmetische Verbesserungen, die am Grundproblem der doppelten Anrechnung des Teilzeitpensums nichts ändern. Auch findet sie es nicht richtig, dass eine einzelne Personengruppe für das Finanzloch der IV geradestehen soll. Sie hofft nun auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Dort hat Andrea Mengis vor ein paar Jahren eine Beschwerde wegen der Diskriminierung der Frauen bei der IV eingereicht. Der Fall ist noch hängig.

Kommentar Sozialkontrolle
IV-Bezüger/Innen sind die heutigen Geächteten und Aussätzigen unserer Gesellschaft. Es gibt keine andere Bevölkerungsgruppe, welche in den letzten Jahren derart diskriminiert und entrechtet wurde. “Bürgerliche” Hardliner und ihre jahrelange mediale Hetze und Diffamierung gegen Menschen mit IV-Hintergrund haben aus der einstigen Invalidenversicherung das gemacht, was sie heute ist: Eine zu einem reinen Ablehnungs- und Verhinderungsapparat verkommene staatliche Institution, welche die Menschenrechte mit beiden Füssen tritt. Darüber braucht sich im Nachhinein niemand zu wundern. Beschämend ist aber das weitgehende Abseitsstehen mässigender Kräfte in Parlament und Bundesrat, welche solche Entwicklungen nicht stoppte.

Die heutige asoziale IV ist das Schandmal einer Schweiz, welche sich auf internationaler Bühne gerne als “Hüterin der Menschenrechte” präsentiert. Heuchelei pur. Vor allem auch nach der Entschuldigung von BR Sommaruga gegenüber den “administrativ Versorgten” und Verdingkindern für das erlittene staatliche Unrecht.
 
Was heute seitens IV praktiziert wird, hat mit Sparen oder gar “Eingliederung” rein gar nichts zu tun. Denn es findet lediglich eine Kostenverlagerung statt. Im Rahmen ihrer “Mitwirkungs- und Schadenminderungspflichten” werden die Betroffenen zuvor auf jede erdenkliche Art drangsaliert und entrechtet (Stichwort MEDAS-Scheingutachten, welche dazu häufig unter Nötigung erstellt werden), um am Ende wie menschlicher Müll an die Endstation Sozialhilfe entsorgt zu werden.

Es sei daran erinnert, dass die IV keine Almoseninstitution ist, sondern eine Sozialversicherung, für welche wir alle Prämienbeiträge bezahlen.

Eine angebliche Sozialversicherung, welche Milliarden an Prämienbeiträgen erhebt, aber den Versicherten gesetzlich zustehenden Leistungen verweigert (um sie an die Sozialhilfe abzuschieben), hat keine Daseinsberechtigung mehr und gehört abgeschafft. So etwas braucht kein Mensch.

Das heutige IV-Debakel ist kein Ruhmesblatt für unser Land. Auch nicht für den verantwortlichen BSV-Vorsteher, BR Berset (SP).

IV-Chef Ritler soll endlich einen Abgang machen. Und BSV-Direktor Brechbühl gleich mit.

Nicht zuletzt wegen solcher grober sozialer Ungerechtigkeiten, und dies nicht nur bei der IV, werde ich bei der Abstimmung für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein überzeugtes JA in die Urne werfen.
Weg mit #agenda2010 und #behoerdenwillkuer

Quelle: via @IV Debakel, September 11, 2015 at 03:33PM

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