Du bist in H4 angekommen. Deine “Schönwetterfreunde” wenden sich nach und nach von dir ab. Immer mit den gleichen Begründungen: “Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit!” Oder: “Ist wohl bequemer, in der sozialen Hängematte zu schaukeln?” Sie kennen H4 nur aus den Medien, die einen ewig gleichen Sozialrassismus verbreiten. Irgendwann stellst du fest, dass du mehr oder weniger allein bist. Dazu kommen die Sorgen. Wie lange kannst du dir noch eine warme Mahlzeit am Tag erlauben? Wann werden dir Strom und Wasser abgestellt? Wie sollst du deine Kinder über die Runden bringen? Wann wird dir die Wohnung gekündigt werden? Deinen fahrbaren Untersatz bist du auch losgeworden – da hat die Behörde für gesorgt – und musst trotzdem mobil sein. Wie das funktionieren soll, sagt dir keiner.
Am gesellschaftlichen Miteinander kannst du nicht mehr teilhaben. Nicht, weil man dich meidet – sondern vielmehr deswegen, weil du es nicht bezahlen kannst. Die Currywurst und das Bier beim Volksfest und mindestens 3% vom H4 sind weg. Sogar noch sehr viel mehr, wenn man vorher die Kosten für Strom, Wasser etc. abzieht. Hinsichtlich der Qualität dessen, was du isst, dürfte die Verpackung gesünder als der Inhalt sein. Wenn andere vom neu eröffneten Restaurant schwärmen, dann bleibst du außen vor und sehnst dich danach, endlich mal wieder was vernünftiges zwischen die Zähne zu bekommen. Hunger ist dein ständiger Begleiter. Mit Urlaub, Kinobesuch usw. verhält es sich ganz genauso wie mit dem Volksfest. Du möchtest deinen Kindern eine lebenswerte Zukunft bieten, doch du kannst es nicht. Du schaffst es ja selbst kaum mehr schlecht als recht, irgendwie zu überleben. Frierend, durstig, im Dunkeln und mit knurrendem Magen.
Anfangs, ja, da hast du deine Hoffnung noch auf das Jobcenter gesetzt. Doch sehr schnell begann für dich eine gänzlich unerwartete Lernphase. Du lerntest, dass die Jobcenter eben nicht dazu da sind, dir einen Job zu verschaffen, wie es in den Medien immer behauptet worden ist. Sondern stattdessen zur Statistikfälschung und zum Disziplinieren entrechteter Untertanen. Du triffst dort vereinzelt auf Menschen. Manchmal. Aber oftmals auch nur auf machtgeile, mitunter sadistisch angehauchte, skrupellose Primaten, denen nichts ferner liegt, als dir zu helfen. Ganz im Gegenteil sogar: Wenn die irgendeine Möglichkeit sehen, dich zu schikanieren und zu demütigen, dann tun die das auch – und zwar mit allergrößtem Vergnügen, ganz legal und immer im Rahmen der Gesetze! Wenn du aufbegehren willst, dann steht dir ja der Klageweg offen. Theoretisch. Praktisch hingegen ist das mit Kosten, die du unmöglich stemmen kannst, verbunden. Außerdem müsstest du dann spätestens alle Vierteljahr (wenn nicht sogar noch öfter) eine neue Klage wegen deren permanenten Übergriffen anstrengen – das würde endlos werden. Und bei den Klagen, deren Ergebnis nicht eindeutig zulasten der Jobcenter geht, wirst du anteilig an den Prozesskosten beteiligt. Danach hast du zum Leben gar nichts mehr: Theorie und Praxis gehen im Rechtsstaat um 180° auseinander! Recht erhält nur der, der auch Macht bzw. Geld hat. Hast du beides nicht.
Überhaupt hört ohnehin schon lange keiner mehr auf dich. Weil du unqualifiziert bist. Jegliche Qualifikation ist dir im Jobcenter per Mausklick aberkannt worden. Weil “Hartzies” nun einmal blöd zu sein haben. Alles natürlich auch ganz legal und im Rahmen der Gesetze, versteht sich. Per Gesetz zementiertes Vorurteil! Du bist sozial isoliert und abgebrannt, bist zum Gespött der ganzen Blödmänner geworden, die es ganz zweifellos erst noch erwischen wird. Und zwar später. Du weißt, dass du denen nur voraus gegangen bist, aber wer hört schon auf dich? Denn Zeitungen, Funk und Fernsehen sagen was ganz anderes. Und was in der Zeitung steht, das muss ja stimmen – weil es in der Zeitung steht. BLÖD als neue, deutsche Tugend. Das Geld reicht vorne und hinten nicht, weil es sich nicht am realen Bedarf bemisst. Irgendwann ist deine Kleidung verschlissen, muss ersetzt werden. Wovon? Geht einfach nicht! Wenn du aber in diesem Aufzug zu einem Vorstellungsgespräch gehen solltest, dann brauchst du da gar nicht erst die Tür zu öffnen. Weil man dir ansieht, aus welcher sozialen Schicht du kommst. Tangiert so etwas etwa das Jobcenter? Nein – stattdessen schickt man dich nach ein paar hundert Bewerbungen auf den x-ten Kursus zum Erlernen des Schreibens von Bewerbungen. So, wie die vor zwanzig oder dreißig Jahren mal abzufassen waren. Der Erfolg einer solche “Maßnahme” liegt auf der Hand. Er beträgt null.
Um die Statistik zu schönen parkt man dich in so genannten “Qualifizierungs-Maßnahmen”. Über Jahrzehnte hinweg hast du Erfahrung im Umgang mit Geld sammeln können, warst vielleicht im Einkauf oder gar im Finanzwesen tätig. Jetzt spielst du zwecks Qualifizierung “Kaufmannsladen”, um den Umgang mit Geld von Leuten beigebracht zu bekommen, die noch Pampers trugen, als du schon längst im Job deinen Mann gestanden hast. Du fühlst dich verarscht. Du ahnst, dass da eine Mafia aus Behörde und den Anbietern obskurer “Maßnahmen” existieren muss. Doch du kannst es nicht beweisen. Und du bist zum Mitmachen verpflichtet. Denn tust du das nicht, droht dir der Existenzentzug. Oder der Entzug deiner Kinder, die anschließend im Rahmen des ganz legalen Menschenhandels an Reiche verkauft werden, auch wenn das offiziell etwas anders ausgedrückt wird.
Du willst arbeiten, weil man von H4 nicht leben, sondern nur auf Raten verrecken kann. Das auf Kundschaftssicherung ausgerichtete Jobcenter macht dir aber einen dicken Strich durch die Rechnung. Denn per EGV hat man dir eine Residenzpflicht wie weiland im Dritten Reich auferlegt. Wenn du einen bestimmten Bereich verlassen willst, dann benötigst du dazu die schriftliche Erlaubnis deines “Fallmanagers”. Die du aber nicht bekommst, weil du am besagten Tag ja nicht “uneingeschränkt für Vermittlungen zur Verfügung stehst”. So kannst du auch nicht zum Vorstellungsgespräch kommen. Wie du dorthin gekommen wärst, bliebe ohnehin dir ganz alleine überlassen. Auto geht ja nicht. Fahrrad? Vielleicht. Öffis? Teuer und endlos. Schwarzfahren? Möglicherweise.
Überhaupt, das Reisen. Zwanzig Kilometer, vielleicht auch mehr, bis zum zuständigen Jobcenter. Das Auto hat man dir ja abgenommen, denn dabei hat es sich um einen “veräußerbaren Wertgegenstand” gehandelt. Bleiben noch Öffis und Fahrrad. Mit den Öffis geht gar nichts. Weil hier auf dem flachen Land kaum welche fahren. Du bekommst eine “Einladung” zu einem “Gespräch über dein Arbeitskraftangebot” und hast in der Behörde zu erscheinen. Pünktlich – denn andernfalls kürzt man dir das H4 notfalls bis runter auf null, bis hin zum Existenzentzug: Die Todesstrafe ist wieder da. Sie nennt sich nur anders. Nämlich “Sanktion”. Du schwingst dich bei Wind und Wetter auf den Drahtesel und fährst zig Kilometer. Auffällig, dass die Einladungen immer auf Brückentage fallen. Auffällig, dass sie immer auf Zeiten fallen, zu denen definitiv keinerlei Öffis verfügbar sind. Aber von beabsichtigter Schikane darf keiner reden. Nass und frierend sitzt du dann u. U. stundenlang in der Behörde rum. Beabsichtigte Demütigung. Mit den doofen Hartzies kann man’s ja machen. Schließlich wird nur vermerkt, dass du dagewesen bist und daher keine Sanktion auszusprechen ist. Du darfst dich dich wieder entfernen. Nur drückt man das eher im Stil von “Ey Hartzie, verpiss’ dich!” aus.
Vielleicht ergatterst du irgendwann aber doch noch einen Job. Normalerweise ist das ein befristeter Minijob. Das meiste Geld von deinem Verdienst kassiert dabei ohnehin die Behörde ein. Du malochst, um deren Verwaltung zum Selbstzweck zu finanzieren. Du begreifst irgendwann, dass du nur arbeitest, um denen, die dich schikanieren, ihr Monatsgehalt zu sichern. In über der Hälfte dieser Minijobs wähnst du dich ins letzte oder gar vorletzte Jahrhundert zurück versetzt. Denn Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsanspruch, Arbeitssicherheit, Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, Mitbestimmung – all das gibt es dabei nicht. Es existiert einzig auf dem Papier. Wer krank wird, der fliegt. Wer etwas sagt auch. Sofort. Rechtlose Arbeitnehmer, mit denen man es ja machen kann. Weil hinreichend viele bereits Schlange stehen: H4 als sich selbst stabilisierendes System. Früher hättest du so etwas hierzulande nicht mal in deinen schlimmsten Albträumen für möglich gehalten und jeden, der dir davon berichtet hätte, für komplett verrückt erklärt. Heute weißt du es besser. Heute hat die Realität dich eingeholt und dich eines Besseren belehrt. Heute weißt du, dass das ganze H4-System einzig der Unterdrückung und Entrechtung von Untertanen dient.
Denn Rechte hast du bestenfalls noch auf dem Papier. Um Prozesse anzustrengen fehlen dir die Mittel. Die Freizügigkeit existiert durch die EGV nicht mehr. Deine Familie ist ein Wackelkandidat, denn das Amt kann jederzeit den Kindesentzug anordnen. Datenschutz ist zum Fremdwort geworden, denn du hast im Rahmen deiner Mitwirkungspflicht denen volle Konteneinsicht geben und deinen Arzt von seiner Schweigepflicht entbinden müssen. So genannte “Hausbesuche” – bei denen es sich in Wirklichkeit um nichts anderes als um Hausdurchsuchungen ohne richterliche Genehmigung handelt und in deren Verlauf nicht nur die Wäschefächer durchwühlt, sondern sogar die Zahnbürsten im Bad durchgezählt werden – liefern dem Jobcenter die letzten, noch fehlenden Erkenntnisse, um dich zum völlig gläsernen Bürger werden zu lassen. Selbstverständlich wird deine Familie, da es sich ja um eine “Bedarfsgemeinschaft” handelt, bei der Gelegenheit gleich mit “inventarisiert”. Das I-Tüpfelchen liefern dann noch die täglichen Kontrollanrufe “zwecks Prüfung deiner Verfügbarkeit für Vermittlungen”. Dabei sind Vermittlungen etwa so zahlreich wie Eiswasserstände in der Wüste!
Vielleicht nimmst du das alles ja zähneknirschend hin. Vielleicht gewöhnst du dich sogar an all die Schikanen, Demütigungen und verbalen Beleidigungen dir gegenüber (“Sozialschmarotzer!“), ohne die es nun einmal nicht abgeht. Dir ist klar, dass man dich vorsätzlich betrogen hat. Denn über zig Jahre hinweg hast du in eine Versicherung für eben den Fall der Arbeitslosigkeit zwangseinzahlen müssen. Und jetzt, wo dir die Versicherungsleistung eigentlich zustehen sollte, da … Schwamm drüber! Du hast schmerzlich erkannt, wie dieses System tatsächlich funktioniert. Die ganzen Arbeitslosen und prekär Beschäftigten sind der Treibstoff für den Motor Wirtschaft, dessen einziger Zweck darin besteht, die Reichen noch reicher werden zu lassen. Jegliche Humanität ist in diesem System abhanden gekommen.
Vielleicht kannst du ja mit all dem leben. Mit diesem Wissen, den Sorgen und den Schikanen. Was aber noch sehr viel schlimmer ist, sind die zig Tausende von täglichen, kleinen Nadelstichen. Die schaffen dich nämlich wirklich! Denn all das, was für deine Mitmenschen zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags zählt, das ist für dich schon lange nicht mehr selbstverständlich! Du kannst eben keine Runde für die Kumpels ausgeben. Du kannst nicht einfach so von A nach B fahren. Du kannst nicht an dieser oder jener Veranstaltung teilnehmen. Du kannst nicht einfach irgendwo ein Hotelzimmer buchen. Du kannst dir kein Taxi nehmen. Irgendwann fällt dir auf, wie unbedacht deine Mitmenschen derartige Alltäglichkeiten stillschweigend als gegeben voraussetzen. Einerseits weil sie es (noch) nicht anders kennen. Andererseits weil sie es sich ohne diese Selbstverständlichkeiten (noch) nicht vorstellen können. Wenn du aber darauf hinweist, dass Selbstverständliches nicht unbedingt immer selbstverständlich sein muss, dann bist du außen vor, bist sozial isoliert. Dann wirft man dir mitunter sogar noch “mangelnde Kooperation” vor.
Manchmal lässt du dich deswegen auf die eine oder andere Diskussion ein. Anfangs noch häufiger, später weniger und zuletzt gar nicht mehr. Weil du keinen Sinn darin erkennen kannst, mit Menschen zu argumentieren, die bewusst wegsehen. Also mit Vollpfosten! Was bleibt? Du hast drei Möglichkeiten. Entweder, du ergibst dich einem Unrechtssystem, in dem Legislative, Exekutive und Jurisdiktion in Personalunion auftreten (wie es bei gewissen “Diensten” in gewissen “Staaten” schon früher der Fall gewesen ist). Dann wirst du zum recht- und willenlosen Sklaven gemacht und auf lange Sicht verheizt. Oder du wählst stattdessen die Flucht und verbunden damit das Aufgeben von allem, was gewesen ist. In Form von Auswanderung oder Suizid. Doch wohin auswandern, wenn es aufgrund der schwer angesagten, neoliberalen Politik überall gleich aussieht? Bleibt noch der Ausstieg aus dem Unrechtssystem. Der allerdings setzt Zusammenhalt und Unterstützung von privater Seite voraus, denn alleine ist er kaum zu bewerkstelligen. In dem Falle hangelst du dich ohne H4 von Minijob zu Minijob und weißt nicht, wie du am nächsten Tag über die Runden kommen sollst, weil dir unter dem Strich noch weniger zum Leben bleibt. Dann reibst du dich unweigerlich in mehreren Minijobs gleichzeitig auf, was von den intelligenzresistenten Vollpfosten als “gar keine richtige Arbeit” dargestellt wird.
Das sind die Perspektiven der Unterschicht in Deutschland. Die Perspektiven der Oberschicht sehen gänzlich anders aus. Die Perspektiven der mehr und mehr erodierenden und heute schon nur noch sehr dünnen Mittelschicht gleichen sich denen der Unterschicht an. Aber wundert sich angesichts dieser Unterschichtsperspektiven noch irgendwer darüber, dass es in Deutschland keinen Nachwuchs mehr gibt? Doch all das, was ich hier gesagt habe, stellt selbstverständlich nur meine ganz eigene, ganz persönliche Meinung dar. Gemäß Art. 5 GG darf ich die (noch) äußern. Liebe LeserInnen, ihr seid sicherlich sehr viel besser beraten, wenn ihr all das ganz schnell wieder vergesst und nur noch auf die kompetenten Experten hört, die nicht müde werden, H4 schön zu reden. Denn die wissen wenigstens, worum es geht! Nur könnte es geschehen, dass ihr dann, wenn es euch selbst erwischt, euch vielleicht an meine Worte erinnert.
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Quergedacht, June 10, 2015 at 09:19PM
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