Sanktionen bei Grundsicherungsleistungen sind verfassungswidrig. Sie verletzen das Recht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das sich aus der Menschenwürdegarantie selbst ergibt. Gemäß unserer Verfassung gelten bürgerliche Freiheiten und soziale Sicherheit gleichrangig neben- und miteinander. Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz lautet: «Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat». Doch in der Praxis steht es schlecht um unseren «Sozialstaat». Die Bedrohung geht vom Staat aus. Der Verfassungsbruch ist ständige Praxis der Jobcenter. Er ist Gesetzestext. Auf Grundlage verfassungswidriger Normen im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) werden Hartz IV-Empfängerinnen und Hartz IV-Empfängern bis zu 100 Prozent des ohnehin kaum ausreichenden Regelbedarfs und der Kosten für Unterkunft und Heizung gestrichen. Mehr als eine Million solcher Sanktionen verhängten die Jobcenter im Jahr 2014. Das sind täglich etwa 2700 «legale» Eingriffe in das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Es ist unwürdig, dass in einem der reichsten Länder der Welt eine solche Praxis existiert. Sie gehört gestoppt.
Das physische und psychische Überleben der Bürgerinnen und Bürger ist Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung aller freiheitlichen und sozialen Grund- und Teilhaberechte. Wird diese Grundlage nicht garantiert, sind alle übrigen Rechte für die Betroffenen kaum das Papier wert, auf dem sie stehen. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit erlaubt sonst nichts weiter als die eigene Arbeitskraft zu schlimmsten Bedingungen zu verkaufen oder betteln zu gehen. Die Freizügigkeit wird zum Recht, unter Brücken zu schlafen. Ein Staat, der allen Gesellschaftsmitgliedern nicht nur gleiche Rechte einräumt, sondern sie tatsächlich verwirklicht sehen will, muss zuerst die von Not und Leid freie Existenz seiner Bürgerinnen und Bürger sicherstellen. Deswegen gehört zu einem funktionierenden Rechtsstaat auch ein funktionierender Sozialstaat mit einem entsprechend gut ausgebauten Sozialsystem.
Bereits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißt es in Art. 21: «Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmt den Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es nun, dass sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert.» Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland fehlt ein vergleichbarer Artikel. Dafür haben wir zwölf Sozialgesetzbücher, nach denen in einer persönlichen Notlage unterschiedliche Geld- und Sachleistungen gewährt werden können.
Der falsche Grundsatz vom «Fördern und Fordern»
Im deutschen Sozialrecht herrscht der Grundsatz des «Förderns und Forderns». Er koppelt die Gewährung staatlicher Leistungen für Hilfebedürftige an deren Mitwirkung, sozusagen als Gegenleistung. Sein Ausdruck sind unter anderem die Sanktionsnormen der §§ 31 a, 32 SGB II, die es erlauben, Hartz IV-Empfängerinnen und -Empfängern in bestimmten Fällen Leistungen zu streichen. In den vergangenen Jahren wurden jeweils über 1.000.000 Sanktionen verhängt. Grund für die Leistungskürzung ist eine angebliche «Pflichtverletzung». Pflicht ist dabei die Meldung beim Jobcenter, wobei das Jobcenter entscheidet, wann man sich zu melden hat. Pflicht ist die Annahme jeder zumutbaren Arbeit, «zumutbar» ist fast alles. Pflicht ist auch die Erfüllung einer «Eingliederungsvereinbarung», die aus freiem Willen niemand abschließen würde. Kommen mehrere Pflichtversäumnisse zusammen, wird die gesamte Leistung gekürzt. 100 Prozent Kürzung von 399 Euro zuzüglich 100 Prozent Kürzung der Kosten für Unterkunft und Heizung macht 0,00 Euro pro Monat. Wer rechtzeitig einen Antrag stellt und Glück hat, erhält zum Ausgleich Sachleistungen. Das macht 0,00 Euro plus das Gutdünken des Jobcenters. Durch das Prinzip des «Förderns und Forderns» wird eine Art Vertragsverhältnis zwischen Staat und Bürger, d. h. zwei völlig ungleichen Partnern, vorgegaukelt: Der Bürger soll sich sein «unverfügbares» Grundrecht durch regelgerechtes Verhalten verdienen. Um sein Recht zu bekommen, muss er eine Gegenleistung abliefern. Dem liegt ein Menschenbild zu Grunde, das von Faulheit und Betrug ausgeht und weder dem realen Menschen noch unserer Verfassung entspricht. Dieses Prinzip führt dazu, dass die grundrechtlich geschützte Wahrnehmung von Freiheitsrechten wie Berufsfreiheit und Selbstbestimmung plötzlich Bestrafung erfährt. Es führt dazu, dass in einem der reichsten Länder der Welt Menschen im Müll nach Pfandflaschen suchen oder in Suppenküchen um Nahrungsmittel betteln. Der Grundsatz des «Förderns und Forderns» ist sozialstaatsfeindlich und mit der Vorstellung allgemeiner Menschenrechte nicht vereinbar.
Das menschenwürdige Existenzminimum des Bundesverfassungsgerichts
Seit Jahrzehnten geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass sich aus der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsgebot ein die Existenz sicherndes Gewährleistungsrecht ergibt. Bereits 1954 hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, die Würde des Menschen verbiete es, «ihn lediglich als Gegenstand staatlichen Handelns zu betrachten, soweit es sich um die Sicherung des «notwendigen Lebensbedarfs» (§ 1 der Reichsgrundsätze), also seines Daseins überhaupt, handelt.» Die Fürsorge für Hilfsbedürftige gehört nach dem Bundesverfassungsgericht zu den «selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates»; die staatliche Gemeinschaft müsse ihnen «jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit möglich in die Gesellschaft einzugliedern». Am 9.2.2010 hat das Gericht schließlich einunmittelbares verfassungsrechtliches Gewährleistungsrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums hergeleitet. Es erstreckt sich auf alle Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Dazu gehört nicht nur die physische Existenz des Menschen, sondern auch seine Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Recht auf Zusicherung des Existenzminimums ist «dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden»; der gesetzliche Leistungsanspruch muss stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers decken.
Unverfügbares Grundrecht mit unbestimmtem Inhalt
Zwar wird das menschenwürdige Existenzminimum in Gerichtsentscheidungen häufig erwähnt, aber sein genauer Inhalt bleibt im Dunkeln. Das höchste deutsche Gericht, Hüter der Verfassung und des darin enthaltenen Sozialstaats, hat bisher nicht die Bereitschaft erkennen lassen, einen konkreten Leistungsumfang für das Existenzminimum festzulegen. Es hat ein Grundrecht konstruiert, dessen Inhalt es nicht genau überprüfen kann. Es räumt dem Parlament nämlich einen politischen Spielraum ein: Nicht Aufgabe von Gerichten, sondern des Gesetzgebers sei es, einen exakten Geldbetrag oder Sachleistungen festzulegen. Entsprechend kann danach in erster Linie das Berechnungsverfahren gerichtlich überprüft werden, nicht aber die konkrete Höhe der Leistungen. Diese kann durch das Gericht angeblich nicht berechnet werden und wird deshalb nur einer «Evidenzkontrolle» unterzogen. Evident unterschritten ist das Existenzminimum offenbar nur, wenn die physische Existenz gefährdet ist. Obwohl das Grundrecht sich ja gerade auch auf die soziale, politische und kulturelle Teilhabe bezieht.
Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist unverständlich. Denn sie widerspricht der Annahme eines Leistungsgrundrechts. Es entspricht der Natur eines solchen Grundrechts, eine bestimmte Leistung zum Inhalt zu haben. Ein «unverfügbares» Leistungsgrundrecht, das keine bestimmte Leistung beinhaltet, ist wie eine Garantie ohne die Festlegung ihres Gegenstands. Zwar sind nicht alle Grundrechte im Einzelnen konkretisiert. Doch hat das Bundesverfassungsgericht bei anderen wichtigen Grundrechten (z. B. beim Eigentumsrecht) zumindest den unberührbaren Wesensgehalt exakt ausdifferenziert. Nicht so beim Recht auf Existenzminimum. Dabei ergibt sich dieses aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, zwei Verfassungssätzen, die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zum unverzichtbaren Kern des Grundgesetzes gehören. Es muss daher in vollem Umfang unberührbar und auch überprüfbar sein.
Pflicht des Parlaments zur Bestimmung/Berechnung
Jedenfalls kann das Bundesverfassungsgericht seiner Meinung nach nicht über den Umfang des Existenzminimums entscheiden. Es weist jedoch dem Parlament den Auftrag zu, es näher auszugestalten und in jedem Einzelfall zu garantieren. Dieser Auftrag ist zwingend, d. h. das Parlament kann sich ihm nicht entziehen. Dabei hat der Gesetzgeber bei der Einschätzung des notwendigen Bedarfs einen Gestaltungsspielraum. Allerdings muss er den zum physischen Überleben und zur sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe erforderlichen Bedarf nachvollziehbar berechnen. Erst durch eine solche Bedarfberechnung wird das Grundrecht konkretisiert und erhält einen bestimmten Inhalt, der dann unmittelbar verfassungsrechtlich geschützt ist. Kommt das Parlament dieser Pflicht nicht nach, verstößt es selbst gegen das Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. So verhielt es sich bei den alten Hartz IV- Bestimmungen im SGB II. Das Bundesverfassungsgericht hat 2010 ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt und mit einem nicht nachvollziehbaren Berechnungsverfahren begründet. Bei der Berechnung der Regelleistungen waren willkürlich Ausgabepositionen im Verhältnis zu den Referenzhaushalten weggekürzt worden. Dazu führte das Gericht aus: «Schätzungen «ins Blaue hinein» laufen […] einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.» Die Höhe des in einer Gesellschaft benötigten «Existenzminimums» leitet sich also – man möchte meinen: logischerweise – unmittelbar aus dem existenznotwendigen Bedarf der Bürgerinnen und Bürger in dieser Gesellschaft ab. Und zwar nur aus diesem. Dieser Bedarf steht nicht unverändert fest, sondern ist Schwankungen unterworfen. Er muss regelmäßig anhand statistischer Daten berechnet oder zumindest begründet geschätzt werden.
Sanktionsnormen berechnen keinen Bedarf
Die Kürzungsnormen im SGB II und SGB XII sind ganz offensichtlich keine auf einer Bedarfberechnung beruhenden, das Grundrecht in diesem Sinne ausgestaltende Normen. Eine Sanktion führt nämlich zum Schwinden des «unverfügbaren» Existenzminimums, einzig zum Zwecke der Bestrafung. Es fehlt jeglicher Zusammenhang der nach einer Kürzung verbleibenden Leistungshöhe mit dem existenznotwendigen Bedarf der Betroffenen. Bereits deshalb sind diese Regelungen verfassungswidrig. Die Voraussetzung für die Gewährung des Existenzminimums kann nämlich nur die gegenwärtige Bedürftigkeit, d. h. die objektive Notwendigkeit sein. Der Gesetzgeber hat mit den Sanktionsnormen die volle Erbringung der Leistungen zur Deckung des Existenzminimums stattdessen an ein regelkonformes Verhalten der Betroffenen geknüpft. Im Moment der Kürzung spielt überhaupt keine Rolle, was zum Überleben benötigt wird.
Diese Auffassung ist auch nach der Logik des Bundesverfassungsgerichts zwingend: Wenn bereits Gesetzesvorschriften, die auf einer nicht nachvollziehbaren Berechnung (aber immerhin auf einer Bedarfsschätzung) beruhen, gegen das Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums verstoßen, gilt dies erst recht für Normen, die die Höhe der Leistung überhaupt nicht an den aktuellen Bedarf, sondern an ein bestimmtes Verhalten der Bedürftigen knüpfen.
Sofern die neuen Hartz IV-Leistungsvorschriften in den Augen des Bundesverfassungsgerichts überhaupt verfassungsgemäß sein sollten (was zweifelhaft ist), hat der Gesetzgeber das Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums inhaltlich bestimmt. Den damit festgelegten Bedarf muss er in jedem Einzelfall absolut gewähren. Jede Kürzung (nach SGB II oder SGB XII) oder Unterschreitung des gesetzlichen Leistungsanspruchs (z. B. durch das Asylbewerberleistungsgesetz) ist dann verfassungswidrig, ganz gleich ob sie ihrerseits durch Gesetz, Verwaltungs- oder Realakt vorgenommen wird. Das einmal durch Gesetz ausgestaltete Grundrecht ist «unverfügbar». Der Staat darf dieses Recht niemals verletzen. Selbst die einzelnen Personen können über dieses Recht nicht verfügen, indem sie etwa darauf verzichten oder es an andere abtreten.
Fazit und Überlegungen zum Sozialstaat
Ein Staat, der für das Überleben von Hilfebedürftigen im Gegenzug ein bestimmtes Verhalten der Betroffenen fordert, ist kein Sozialstaat. Nicht nur freiheitliche, sondern auch soziale Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar. Das Prinzip des «Förderns und Forderns» ist mit der Idee allgemeiner Menschenrechte unvereinbar.Das Recht auf staatliche Sicherung des Existenzminimums entspringt der Menschenwürde selbst und ist unantastbar. Seine unbedingte Einhaltung ist für den Sozialstaat konstitutiv. Sie ist zudem Voraussetzung für einen funktionierenden Rechtsstaat.
Durch Leistungskürzungen wie Sanktionen bei Hartz IV wird dieses Menschenrecht tagtäglich verletzt. Die Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien verteidigt den Verfassungsbruch. Deutsche Behörden führen ihn aus. Mit Ausnahme des Sozialgerichts Gotha haben die Sozialgerichte bisher nicht das Bundesverfassungsgericht angerufen, um die Sanktionspraxis zu stoppen. In der Wissenschaft und in der juristischen Literatur, in der Rechtsprechung und in der öffentlichen Meinung dominiert der Gedanke, dass Menschen etwas tun müssen, bevor der Staat ihnen Geld auszahlt. Bisher gelingt es uns Linken nicht, diesem politischen und verfassungsrechtlichen Irrglauben wirkungsvoll entgegenzutreten. Es ist an der Zeit, auch soziale Grundrechte offensiv einzufordern. Hiervon wird es entscheidend abhängen, ob der Sozialstaat Tinte bleibt oder gesellschaftliche Wirklichkeit wird.
Der Bund der Geächteten schrieb 1834 in einer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Art. 1 ff.): «Der Zweck der Gesellschaft ist das Glück aller ihrer Glieder. […] Um dieses Glück zu sichern, muss die Gesellschaft einem jeden verbürgen: Sicherheit der Person; die Mittel, sich auf eine leichte Weise ein Auskommen zu verschaffen, welches ihm nicht nur die Bedürfnisse des Lebens, sondern auch eine des Menschen würdige Stellung in der Gesellschaft sichert; Entwicklung seiner Anlagen; Freiheit; Widerstand gegen Unterdrückung. […] Da alle Bürger, wie groß immer die Verschiedenheit ihrer Kräfte sein mag, ein gleiches Recht auf diese Zusicherung haben, so ist Gleichheit das Grundgesetz dieser Gesellschaft.» [...]
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Norbertschulze, June 19, 2015 at 09:30AM
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