Gelten Grundrechte in Deutschland gleichermaßen für alle? Nein, meinte der Thüringer Sozialrichter Jens Petermann am Freitag abend bei einem Vortrag im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte. Bei der Veranstaltung mit dem Titel »Die Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen bei Hartz IV« beleuchtete Petermann, von 2009 bis 2013 Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke, vertrat die juristische Seite des Problems und diskutierte mit der Altenburger Landrätin Michaele Sojka (Die Linke), die das Jobcenter in ihrem Kreis aufgefordert hat, die Sanktionspraxis sofort zu beenden.
Das 2005 mit der Agenda 2010 eingeführte Sozialgesetz zwinge Hartz-IV-Bezieher dazu, sich das menschenwürdige Existenzminimum zu »verdienen«, sagte Petermann. Jobcenter könnten fast jede Arbeit für »zumutbar« erklären und Erwerbslose wie »Aufstocker« auch mit unsinnigen Pflichten belegen. Parieren sie nicht, werde ihnen »ganz legal« die Grundsicherung stufenweise weggekürzt. Dies sei »eine Art Strafrecht im Sozialgesetz«, das »Bedürftige rechtloser macht als Straftäter«. Letztere könnten nur durch Gerichte verurteilt werden. Nahrung, Obdach und Hilfe bei Krankheit dürfe selbst Schwerverbrechern nicht versagt werden. »Bei Hartz IV entscheidet dagegen eine Behörde über Gedeih und Verderb«, brachte es Petermann auf den Punkt. »Eine derartige Behandlung von Menschen ist für einen demokratischen Sozialstaat unverantwortlich«.
Petermann gehört jener Kammer des Sozialgerichts Gotha an, die im Mai das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe angerufen hat. Das soll nun erstmals die Sanktionspraxis prüfen. Entschieden hatte das BVerfG bisher nur zur Höhe der ungekürzten Regelleistung: 2010 befand es die Sätze für intransparent und fehlerhaft berechnet. Die Bundesregierung musste nachbessern. 2014 erklärte Karlsruhe die Leistungen für »gerade noch verfassungsgemäß«. Die durch Strafen geminderten Bezüge unterlägen indes gar keiner Bedarfsberechnung und wurden nie geprüft, erklärte Petermann. Er kann sich »nur schwer vorstellen, dass Karlsruhe das toleriert«. »Sanktionen gefährden nicht nur die Menschenwürde, sondern auch das Leben Betroffener«, stellte er klar. Zudem komme ihre Androhung einer Erpressung gleich, jede Arbeit anzunehmen. Das untergrabe das Grundrecht auf freie Wahl des Berufes.
Landrätin Sojka will auf politischer Ebene etwas bewirken. Denn als Kommunalpolitikerin kann sie nicht in ein Bundesgesetz eingreifen. Sie will »Problembewusstsein in den Jobcentern schaffen«, sagte sie bei der Diskussion am Freitag in Berlin. Sanktionen seien angesichts des Mangels an angemessen bezahlter Arbeit »absurd«. Im Kreis Altenburg lebe rund ein Viertel der Kinder unter Hartz-IV-Bedingungen. Die Armut produziere soziale Verwerfungen. Betroffene hätten oft »andere Sorgen, als den permanenten amtlichen Aufforderungen zu folgen«. »Da schlafen Jugendliche unter der Brücke, werden immer weiter sanktioniert, und ihre Sozialarbeiter betteln beim Jobcenter, damit sie etwas zu essen bekommen«, mahnte Sojka. Dies sei »eine Schande«. Die Obfrau des Landkreises versucht derzeit, ein Jugendwohnprojekt für Betroffene ins Leben zu rufen, wie sie jW berichtete. Anstatt die Verwaltung der Jobcenter fortwährend aufzustocken, um noch mehr zu sanktionieren, bedürfe es endlich echter Hilfe.Petermann sprach von einer juristischen und einer politischen Ebene, auf der die Praxis angegangen werden müsse. Letztere beschreibe die Stimmung, unter der die Agenda entstanden ist und fortgeführt wird. »Die Mehrheit ist meiner Einschätzung nach pro Sanktionen«, sagte er. Dabei spiele das Menschenbild vom »faulen Erwerbslosen« und gleichzeitiges Ausblenden wirtschaftlicher Faktoren eine tragende Rolle. Hier seien kritische Politiker gefordert. Bundestagsfraktionen könnten beispielsweise eine Normenkontrollklage in Karlsruhe erwirken. Diese würden in der Regel schneller beschieden als Richtervorlagen. Juristisch gehe es um die Auslegung von Gesetzen. Die sei sehr unterschiedlich. So deklarierte das BVerfG das physische und soziokulturelle Existenzminimum als »dem Grunde nach unverfügbar«. Aus dem Zusatz »dem Grunde nach« bastelten einige »Experten« die Einschränkung, dass Bedürftige verpflichtet werden könnten, ihr Minimum nur unter Einhalten von Auflagen zu erhalten. »Das ist schlicht falsch«, rügte Petermann. Ein weiteres Problem sieht er darin, dass Jobcenter bei Klagen von Betroffenen von der Zahlung der Gerichtskosten ausgenommen seien. Andere Behörden und Krankenkassen müssten etwa 150 Euro pro Verfahren löhnen. »Hätten Jobcenter auch diesen Druck, würde sich vielleicht etwas ändern«, vermutet Petermann [...]
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Norbertschulze, August 10, 2015 at 01:00AM
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