Chorea Huntington ist eine schreckliche Krankheit. Sie zerstört langsam das Gehirn. Sie endet immer tödlich. Die Betroffenen leiden an zunehmenden psychische Störungen, Gedächtnisverlust und verlieren die Kontrolle über ihre Muskulatur. Einher geht das fast immer mit Depressionen. Adriano M. leidet an dieser Krankheit und das ist seine „Sozialbehörden“-Geschichte. Über seinen Rechtsanwalt Otmar Spirk hat der 54jährige uns mitgeteilt, es sei ihm ein großes Anliegen, dass sie erzählt wird.
Glück: Der Rechtsanwalt trifft den obdachlosen Bettler
Dass Spirk sie überhaupt kennt und Adriano M. heute zumindest wieder unter menschenwürdigen Bedingungen leben kann, ist allenfalls einem glücklichen Zufall zu verdanken. Im Dezember 2014 bettelte er an einer Ecke des Emmeramsplatzes in Regensburg Rechtsanwalt Spirk um ein paar Cent an. Man kam ins Gespräch. Kurz darauf bat die Caritas Spirk, Adriano M. gegen das Jobcenter zu vertreten. Damals war M. bereits seit neun Monaten obdachlos, ohne Geld, und ohne Krankenversicherung . „Er war völlig am Ende“, erzählt Spirk.
Adriano M. stammt aus Italien. Mit Unterbrechungen lebt er seit mittlerweile etwa 20 Jahren in Deutschland. Hier war er mal in Vollzeit, mal in Teilzeit in der Gastronomie tätig und hat sich über die Jahre auch die Anwartschaft auf eine Altersregelrente erarbeitet.
2008 brach Chorea Huntington bei ihm aus. M.ging zurück nach Italien, zu seinem Bruder, der letzten Bezugsperson aus seiner Familie, die er noch hatte, um bei ihm zu arbeiten. Nach dem Tod seines Bruders kehrte Adriano M. Ende 2011 dauerhaft nach Deutschland zurück, wo er aufgrund seiner Krankheit die meiste Zeit auf Arbeitslosengeld II angewiesen war.
„Der Mann hätte auf der Straße krepieren können und es hätte niemanden gekümmert.“
Das Jobcenter Regensburg beantragte schließlich die Feststellung, dass M. dauerhaft erwerbsunfähig sei. Der Hintergrund: Bei Erwerbsunfähigkeit wäre nicht mehr das Jobcenter, sondern das Sozialamt für Adriano M. zuständig gewesen. Ein verbindliches Gutachten der Deutschen Rentenversicherung kam indes zu dem Schluss: Adriano M. ist in der Lage, drei bis sechs Stunden täglich zu arbeiten – folglich hat er Anspruch auf Arbeitslosengeld II.
Gleichwohl lehnte das Jobcenter lehnte M.s Antrag auf Arbeitlosengeld II ab. Drei Mal zog er – damals noch ohne Rechtsanwalt – vors Sozialgericht. Drei Mal wurde das Jobcenter im Schnellverfahren der einstweiligen Anordnung verdonnert, M. die ihm zustehenden Leistungen zu gewähren. Doch die Bewilligung gilt jeweils nur für ein halbes Jahr.
Der Mann hält den Kampf mit den Behörden um seine Existenz verbunden mit der extrem belastenden Erkrankung schließlich nicht mehr aus. Er bricht psychisch zusammen und landet Anfang 2014 unfreiwillig in der Obdachlosigkeit. Neun Monate später lernt er Otmar Spirk kennen. Der ist erschüttert von der Gleichgültigkeit der Behörden. „Mein Eindruck war: Der Mann hätte auf der Straße krepieren können und es hätte niemanden gekümmert.“
Das Jobcenter macht Stress, wo es nur geht
Der Rechtsanwalt nimmt sich des Falls an. Beim Sozialamt beißt er auf Granit. Zuständig sei das Jobcenter, deshalb gebe es nicht einmal Nothilfen. Er streitet mit dem Ordnungsamt der Stadt Regensburg, das damals noch zuständig für Notunterkünfte war, um für Adriano M. eine Wohnung zu bekommen – nach einer Klageandrohung hat Spirk Erfolg. M. kann eine kleine Zwei-Zimmer-Notunterkunft der Stadt beziehen.
Ebenso Erfolg hat er mit einer einstweiligen Anordnung gegen das Jobcenter vor dem Bayerischen Landessozialgericht. Das kommt im Februar 2015 zu dem Schluss, dass Adriano M. aufgrund der von ihm in Deutschland erworbenen Rentenansprüche und seiner Verwurzelung in Deutschland auch ein Anrecht auf Arbeitslosengeld II habe – für das zurückliegende halbe Jahr. Das Jobcenter zahlt und lehnt den Antrag für das folgende Halbjahr erneut ab. Wieder klagt Spirk. Wieder bekommt er recht. Doch weiterhin mache die Behörde „Stress, wo es nur geht“.
Eine Kleidungsbeihilfe wird zunächst abgelehnt, nach Antrag auf einstweilige Anordnung beim Sozialgericht bezahlt. Eine Heizkostenübernahme wird abgelehnt, erst im Widerspruchsverfahren bewilligt. Selbst Honorare wegen der gewonnenen Widerspruchsverfahren muss Spirk zum Teil gerichtlich einfordern. Er spricht von „ständigen Verzögerungen und Frechheiten“. „Ein normaler Mensch geht da unter, geschweige denn ein schwerkranker.“
Nach zahlreichen verlorenen Klagen: Jobcenter lässt Aufenthaltsrecht prüfen
Inzwischen hat Adriano M. insgesamt sechs einstweilige Anordnungen , eine „normale“ Klage und drei Widerspruchsverfahren gegen das Jobcenter gewonnen. Vier weitere Klagen und zwei Widersprüche sind noch offen.
Derzeit wurde Adriano M. – erneut auf Anordnung des Gerichts – Arbeitslosengeld II bis Ende Oktober bewilligt. Doch das Jobcenter ist bereits in einer anderen Richtung aktiv geworden. Im Juni erhielt Spirk ein Schreiben, in dem es nunmehr heißt: „Im vorliegenden Fall ist fraglich, ob Sie (also Adriano M., Anm. d. Red.) überhaupt berechtigt sind, sich in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten.“ Das Ausländeramt der Stadt Regensburg prüfe derzeit deshalb M.s Aufenthaltsberechtigung und seine Abschiebung.
Vorausgegangen waren zwei „Anfragen“ des Jobcenters an das Ausländeramt im Februar und Mai 2015, ob denn Adriano M. überhaupt eine Daueraufenthaltsberechtigung in Deutschland habe.
Spirk ist bereits tätig geworden. Es gibt längere Schriftwechsel mit dem Ausländeramt. Er hält die angedrohte Abschiebung seines Mandanten für rechtswidrig, wartet allerdings noch auf die abschließende Entscheidung der Behörde. Und selbst wenn Spirk auch hier Erfolg haben sollte, scheint die nächste Schikane des Jobcenters Regensburg nur eine Frage der Zeit zu sein.
Menschenwürde? Pfff!
Wenn man bedenkt, dass ein verlorenes Klage-Verfahren einschließlich Widerspruchskosten vor dem Sozialgericht das Jobcenter über 900 Euro Anwaltsgebühren kostet, dann hat die Behörde in der Vergangenheit weder Kosten noch Mühen gescheut, um einem schwerkranken Mann nicht nur die Leistungen zum Lebensunterhalt zu verweigern, sondern ihm durch die permanente Unsicherheit auch noch das Leben zur Hölle zu machen. Durchweg wäre es möglich gewesen, Ermessensentscheidungen zugunsten von Adriano M. zu treffen. Das belegen nicht nur die Gerichtsentscheidungen, das belegt auch ein Schreiben des bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales für solche Fälle vom November 2014, wonach die Jobcenter hier freiwillig vorläufig Leistungen erbringen dürfen. Doch Fragen der Menschlichkeit und Menschenwürde scheinen bei den Erwägungen des Jobcenters Regensburg zu keinem Zeitpunkt eine Rolle gespielt zu haben.
Wir haben das Jobcenter Regensburg um eine Stellungnahme zu dem Fall gebeten. Eine Antwort steht noch aus. Regensburg Digital wird weiter darüber berichten [...]
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Norbertschulze, August 27, 2015 at 08:22AM
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