Jede in der Schweiz stimmberechtigte Person kann das fakultative Referendum ergreifen. Man muss dazu nicht einem Komitee angehören, dies erleichtert aber die Aufgabe.
So steht es auf ch.ch, dem Onlineauftritt der Schweizer Behörden. Dass nun ein paar Jungsozialisten («Jungpolitiker, direkt «vom Hörsaal in den Plenarsaal des Parlaments» gerutscht, kennen die Realität nicht»), eine Künstlerin («Kün-st-ler-in!») und ein Anwalt («geltungsbedürftig!») ihr Bürgerrecht tatsächlich wahrnehmen und sich erdreistet haben, das Referendum gegen die «Gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten» zu ergreifen, löst beim ehemaligen SP-Nationalrat und Preisüberwacher Rudolf Strahm (Jg. 1943) offenbar so grosses Unbehagen aus, dass er seinen Kommentar vom 24.4.2018 im Tagesanzeiger gleich mal mit einer persönliche Diskreditierung (siehe oben) des Referendumskomitees einleitet.
Strahm degradiert die international erfolgreiche Schriftstellerin Sibylle Berg zur namenlosen «Künstlerin» und statt den 20-jährigen Studenten Dimitri Rougy (der sich selbst als «politisches Baby» bezeichnet, obwohl er schon bei einigen erfolgreichen politischen Kampagnen die Fäden im Hintergrund gezogen hat) beim Namen zu nennen, spricht Strahm von «ein paar Jungsozialisten, die im Internet mobilisieren». Einzig der Anwalt im Trio, Philip Stolkin, wird von Strahm als genügend «wichtig» wahrgenommen, um ihn als Person namentlich zu erwähnen.
Strahms allererster Satz lautet: «Eigentlich wollte niemand ein Referendum gegen die Sozialdetektiv-Vorlage.» Das ist inhaltlich nicht ganz präzise, denn über 10’000 Personen hatten innerhalb weniger Tage online kundgetan, dass sie genau das wollen: Das Referendum gegen Versicherungsdetektive ergreifen und es auch tatkräftig unterstützen. Erst nach dieser Vorab-Zusicherung haben die InitiantInnen ihr Vorhaben überhaupt in Angriff genommen.
Was Strahm wirklich meinte: «Niemand, den ich für relevant halte, wollte das Referendum ergreifen». Die SP-Spitze wollte in der Tat kein Referendum. Ein Referendum gegen Versicherungsdetektive sei kaum zu gewinnen, liess SP-Präsident Christian Levrat Anfang April in einem Blick-Interview verlauten, und ausserdem würde man den Gegnern unnötigerweise eine Plattform bieten, um eine aufgebauschte Sozialmissbrauchs-Debatte zu führen. Die Basis sah das allerdings anders und die SP-Führung sicherte – zwar eher widerwillig – doch noch ihre Unterstützung zu. Im Jahr vor den nationalen Wahlen eine leidige Debatte über Sozialschmarotzer zu führen, dürfte ungefähr das Allerletzte sein, was die SP-Spitze wollte. Und ein Alt-Nationalrat aus den eigenen Reihen, der den Gegnern des neuen Spitzelgesetzes gleich mal nichts weniger als «die Unterhöhlung des Sozialstaates» unterstellt, ist wohl auch nicht ganz das, was sich Parteistrategen gemeinhin unter einem geglückten Einstieg in die öffentliche Debatte vorstellen.
Also die SVP-Strategen schon. Denn es ist natürlich ungemein praktisch, wenn man selbst gar nichts mehr tun muss, weil die jahrelange Indoktrination der Bevölkerung («Missbrauch! Überall Missbrauch!») so gut geklappt hat, dass zum einen die SP-Spitze zuerst aus lauter Angst kneift («Bei dem Thema können wir eh nicht gewinnen») und sich dann SP-Exponent Strahm sehr öffentlichkeitswirksam wie eine Art SVP-Papagei gebärdet.
Obwohl Strahm sich als der einzig wahre Experte inszeniert (O-Ton: «Ich frage mich, ob jene Journalisten, die die Kampagne gegen das Gesetz in Gang setzten, den Gesetzestext überhaupt gelesen und studiert hatten.») und ausführlich über den Inhalt des Gesetzes doziert (und dabei übrigens munter immer wieder Beispiele aus der Sozialhilfe hineinmischt, obwohl die Sozialhilfe kantonal geregelt ist, also vom neuen Gesetz gar nicht betroffen ist) geht es ihm auf der Metaebene offensichtlich um ganz etwas anderes: Wie können die es wagen? Wie kann eine zusammengewürfelte Truppe aus diesen Internet es wagen, die göttliche Ordnung zu stören?
Die Ordnung, nach der ein paar altgediente, natürlich männliche Partei-Obere darüber bestimmen, was genügend wichtig ist für eine öffentliche Debatte. Jetzt zwingt uns dieses illustre Trüppchen doch tatsächlich eine öffentliche Diskussion darüber auf, ob ein Gesetz, das BezügerInnen von staatlichen Leistungen betrifft, rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen soll?! Soweit sind wir schon! Rechtsstaatliche Grundsätze für Unterstützungsbedürftige! Ja, wo kommen wir denn da hin? Die sollen doch froh sein, dass man sie nicht verhungern lässt.
Das sagt Strahm zwar nicht so deutlich, aber wenn er schreibt:
Wer Leistungen bezieht, muss auch eine Kontrolle in Kauf nehmen.
offenbart er eine ganz krude Vorstellung von «Kontrolle»: Bei vielen der dem ATSG unterstellten Versicherungen (IV, Unfall- und Krankentaggeldversicherungen) ist – anders als bei der von ihm so ausgiebig zitierten Sozialhilfe – eine gesundheitlich bedingte Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit Voraussetzung für eine Leistungszusprache. Die Kontrolle Abklärung der Erwerbs(un)fähigkeit ist Aufgabe von Ärzten und nicht diejenige von obskuren Detektiven, die keinerlei Qualifikationen nachweisen müssen.
Wenn man so sehr für Kontrolle plädiert, müsste die Kontrolle der Versicherungen, ihrer Detektive und ihrer Gutachter genauso wichtig sein. Aber während man heutzutage – SVP-Indoktrination sei Dank – wie ein obligatorisches Gebet (oder Gebot), ständig zuerst versichern muss, dass man natürlich für Missbrauchsbekämpfung ist (Was ich hiermit getan habe), bevor man überhaupt was zu Sozialversicherungen sagen kann, wird von Vertretern des gegenüberliegen Meinungsspektrums kein obligatorischer Disclaimer («Natürlich soll man die Versicherungen kontrollieren») verlangt. Sollte man aber genauso einfordern. Denn wenn z.B. Lucien Scherrer heute in der NZZ weltwocheverdächtig über «Das falsche Spiel mit den Schwächsten» schnödet, fällt irgendwie ganz zufällig unter den Tisch, dass Versicherungen sich bei der Verfolgung ihrer Eigeninteressen auch nicht immer über jeden Zweifel erhaben verhalten.
Wenn aber Anwälte vorschlagen, dass Begutachtungsgespräche aufgezeichnet werden sollen, findet z.B. Yvonne Bollag, Leiterin der Begutachtungsstelle Asim des Universitätsspitals Basel, plötzlich Vertrauen wichtiger als Kontrolle:
Das Gespräch zwischen Arzt und versicherter Person sei keine Einvernahme; es gehe darum, vertrauensvoll die Krankheitsgeschichte der Person zu erfassen.
Strahm findet scheinbar auch, dass man den Versicherungen doch mit Vertrauen begegnen könne, und offenbart damit, dass er offensichtlich weder Ahnung von der gängigen Praxis der Versicherungen noch von derjenigen des Bundesgerichtes hat, denn er schreibt:
Werden diese restriktiven Observationsvorschriften verletzt, ist das Resultat der Observation ungültig.
Zum einen sind die Observationen gerade nicht restriktiv geregelt (Versicherungen müssen keine richterliche Verfügung für eine Observation einholen, ausser sie wollen «technische Instrumenten zur Standortbestimmung» einsetzen) zum anderen hat das Bundesgericht zwar Observationen für «widerrechtlich» erklärt, lässt aber aktuell in Gerichtsverfahren Observationsergebnisse als Beweismittel nach wie vor zu. Der Staats- und Sozialversichungsrechtsprofessor Thomas Gächter schrieb dazu im Jusletter letzten Dezember:
Nüchtern betrachtet folgt die Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Observationsergebnisse im Sozialversicherungsrecht damit keiner Interessenabwägung, sondern einer ziemlich starren Regel: Das Interesse an der Verhinderung des unrechtmässigen Leistungsbezugs überwiegt immer!
Gächter schreibt ausserdem:
Angesichts dieser Ausgangslage darf man sich – etwas zugespitzt – fragen, weshalb sich der Gesetzgeber überhaupt die Mühe macht, mit einigem Aufwand eine verfassungs- und EMRK-konforme gesetzliche Grundlage für Observationen zu formulieren. Wenn schon das verfassungswidrige, gänzliche Fehlen einer solchen nicht zu einem Verwertungsverbot der gewonnenen Erkenntnisse führt, wird wohl kaum ein Verstoss gegen einen neuen Art. 43a ATSG schwer genug wiegen, um eine Verwertung zu verbieten. Damit scheint der neue Art. 43a ATSG, noch vor seiner definitiven Verabschiedung, zu einer blossen Verhaltensempfehlung zu verkommen.
Kurz: ein Gesetz, das kein Verwertungsverbot enthält (wie z.B. die StPO) und dessen Nichtbeachtung somit keinerlei Konsequenzen nach sich zieht, ist für die Katz. Gächter ist nicht der einzige Rechtsprofessor, der das Parlament eindringlich vor diesem Gesetz gewarnt hat. Auch der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer zeigt in einem lesenswerten Interview in der WOZ auf, wo weitere juristische Stolpersteine liegen.
Diese juristisch fundierten Einwände überhört Strahm allerdings komplett. Eine rechtsstaatliche Gesetzgebung, sowie das Recht, ein Referendum zu ergreifen, sollten nach Meinung des Alt-SP-Nationalrats offenbar nur einer auserwähnten Kaste zugestanden werden. Denn wo kämen wir denn hin, wenn die «natürliche Ordnung» auf den Kopf gestellt wird und alle Bügerinnen und Bürger dieses Landes dieselben Rechte hätten?
Referendumsbogen als PDF zum Ausdrucken und Unterschriften sammeln
(Für diejenigen, die noch nie Unterschriften für ein Referendum gesammelt haben: Wenn Personen aus verschiedenen Gemeinden unterschreiben, braucht es für jede Gemeinde einen eigenen Unterschriftenbogen)
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Fakten zum Missbrauch bei der IV:
Die Missbrauchsquote beträgt 0,3%. Drei Viertel dieser Fälle werden ohne Observation aufgedeckt (z.B. Dossierüberprüfung, erneute Begutachtung). Pro Jahr werden ca. 100 IV-Bezüger observiert, denen kein Missbrauch nachgewiesen werden kann.
Quelle: Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs in der IV (BSV)
Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel
Quelle: via @ IVInfo, April 26, 2018 at 09:54PM
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