Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @HartzIV.org, February 29, 2020 at 03:39PM
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Es ist interessant, dass wir Menschen unsere Bürgerrechte abgeben, wenn wir einen Arbeitsplatz annehmen. – Wie ist das möglich?
Es geschieht durch den Arbeitsvertrag. Er ist eigentlich ein Versklavungs- und Unterwerfungsvertrag.
Wir unterschreiben ihn in der Regel, wenn das Übliche drin steht. Das Übliche ist aber die Unterwerfung. Sie steckt in den vielen Verpflichtungen drin, zu denen man sich bereit erklärt.
Doch halt, um was geht es eigentlich. – Für viele Menschen geht es nur um die Existenzsicherung. Und dann wird ein riesen Popanz gemacht, zu was man dann alles verpflichtet ist.
Auch dass die Jobcenter die Geldlosen zu allen möglichen Tätigkeiten heranziehen wollen, die potentielle Arbeitgeber durchführen möchten, hat letztlich nichts mehr mit der reinen Existenzsicherung zu tun, die die Geldlosen ausschließlich brauchen und wirkt als Anspruch gegenüber diesen Leuten maßlos überdimensioniert.
So wird die unsichere Existenz der Bürger ausgenutzt, um sie zu erniedrigen und auszubeuten.
Wer sagt, die Geldlosen müssten ihre Existenzsicherung verdienen, ja klar, warum nicht. – Aber das ist doch kein Freibrief, um die Leute zu schikanieren, sie für irgendwas, irgendwelche Jobs heranzuziehen, die sie nicht interessieren, die keinen Bezug zu den Existenzgütern haben, die sie eigentlich nur brauchen.
So ist der Arbeitsvertrag der Ausstieg aus den Bürgerprivilegien und der Einstieg in ein sklavenähnliches Beziehungsverhältnis zu einem Master, Herrn, der Verfügungsgewalt über die Mitarbeiter und Dienerschaft hat.
Der Arbeitsvertrag ist eine Falle. – Nicht umsonst bedroht der Staat diejenigen, die es wagen grundlos aus diesem Ungleichverhältnis auszubrechen. Wer scheinbar grundlos seinen Arbeitsvertrag kündigt, bekommt eine 3-monatige Arbeitslosengeldsperre. Kann man die Begründung nachlesen, warum die Gesetzesmacher diese Regel einführten? Wahrscheinlich sind es peinliche Erklärungen.
Die Jobcenter organisieren einen Sklavenhandel. – Was hingegen die Geldlosen heute nur brauchen, ist eine bescheidene Existenzsicherung: Nahrung, Kleidung, Wohnraum und etwas Energie. – Und dann ohne viele Umstände, vielleicht sogar ohne Arbeitsvertrag, mithelfen die Güter, die man braucht, zu produzieren und herbeizuschaffen, wäre vielleicht eine Überlegung, wenn man den Grundeinkommen-Kritikern entgegen kommen wollte.
Heute nutzen der Staat, Wirtschaft und Arbeitgeber die Situation der Geldlosigkeit, um die Bürgerrechte der Leute außer Kraft zu setzen.
Wir brauchen das Bedingungslose Grundeinkommen wirklich dringend, weil erst durch dieses die Grundrechte der Menschen durchgesetzt sind.
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Differenzierte Codierung bitte!
Man kann es der damaligen Verwaltung nicht ankreiden, dass sie sich in den Sechzigerjahren nur an der übergeordneten ICD-Systematik anlehnte und nicht alle psychischen Störungen detailliert auflistete. Der aktuellen Verwaltung kann man aber durchaus ankreiden, dass sie bei psychischen Störungen nicht schon längst eine differenziertere Codierung eingeführt hat. Die Autor*innen der Dossieranalyse hatten das nämlich bereits 2009 vorgeschlagen:
Als Ergänzung zu den bestehenden Codizes der Invalidenversicherung sollte für alle Berenteten eine Kategorisierung nach ICD-10 oder einer vergleichbaren Klassifikation vorgenommen werden. Die bestehenden Gebrechenscodizes sollten beibehalten werden, um die historische Vergleichbarkeit zu sichern.
Mit den heutigen digitalen Möglichkeiten dürfte eine parallele Codierung nach altem und neuen System, sowie neben der Hauptdiagnose auch die Erfassung der (sehr häufigen Komorbiditäten) problemlos möglich sein. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb an diesem veralteten und ungenauen Codierungssystem festgehalten wird, das keine verlässlichen statistischen Daten liefert.
Hätte man bereits vor zehn Jahren eine neue Klassifikation einführt, könnte man nun zumindest über die Entwicklung der Neurentner*innen der letzten Dekade differenzierte Aussagen nach Krankheitsbildern treffen. Es wäre auch schnell ersichtlich, bei welchen Diagnosen welche Interventionsmassnahmen besonders wirkungsvoll sind und welche nicht. Auf Grund dieser Daten könnten explizit auf gewisse Krankheitsbilder zugeschnittene Integrationsprogramme entwickelt werden.
Dass man das bisher für unwichtig hielt, spiegelt auch eine Ignoranz bzw. Abwehrhaltung gegenüber Menschen mit psychischen Krankheiten wieder. Statt die Thematik statistisch und fachlich fundiert anzugehen, hat man die Problematik der zunehmend psychisch bedingten Renten lange verdrängt und das Feld damit den Populisten und Juristen und ihren «Gefühlen» und Weltbildern überlassen, auf dass diese das Problem «auf ihre Weise» lösen. Nur: allen verschärften Zugangsbedingungen zum Trotz sind heute fast die Hälfte aller IV-Renten psychisch bedingt. Es ist höchste Zeit, diese gesellschaftliche Realität anzuerkennen, statt weiter zu hoffen, dass man die psychisch Kranken einfach mithilfe juristischen Taschenspielertricks wieder «zum Verschwinden» bringen kann.
Häufigste Krankheitsbilder: Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen
Aktuell beziehen rund 100’000 Menschen eine IV-Rente aus psychischen Gründen. Doch welche Krankheitsbilder effektiv am häufigsten vertreten sind, kann das BSV aufgrund der ungenauen statistischen Daten nicht verlässlich sagen. Ich versuche trotzdem mal eine sehr vage Annäherung, die in ihrer höchst unwissenschaftlichen Herangehensweise in der BSV-Abteilung MASS vermutlich allgemeines Bauchweh auslösen dürfte (und damit hoffentlich auch die Dringlichkeit eines neuen Codierungssystems aufzeigt).
Ich benutze dazu die folgenden Grundlagen:
Die häufigsten (rentenbegründenden) Erkrankungen bei den rund 100’000 Bezüger*innen aus psychischen Gründen wären demnach:
1. Schizophrenie und Psychosen: 25’000
Code 641, Schizophrenie: 14’000
Code 643, Organische Psychosen und Leiden des Gehirns: 1’500
Code 644, Übrige Psychosen (seltenere Fälle, die nicht unter 641–643 eingereiht werden können, wie Mischpsychosen, sog. schizoaffektive Psychosen, Pfropfschizophrenie usw.); Involutionsdepressionen: 7’500
Unter Code 646 falsch codierte Versicherte mit Schizophrenie (laut Dossieranalyse 2009): 2000
2. Persönlichkeitsstörungen: 19’000
Unter Code 646 codierte Versicherte mit Persönlichkeitsstörungen (laut Dossieranalyse 2009): 15’000
Code 645, Psychopathie: 4’000
3. Depression und bipolare affektive Störung («manisch-depressiv»): 13’000
Code 642, Manisch-depressives Kranksein (Zyklothymie): 5’500
Unter Code 646 codierte Versicherte mit affektiven Störungen (laut Dossieranalyse 2009): 7’500
Die Diagnosen der übrigen Versicherten verteilen sich auf der ganzen Bandbreite der psychischen Sörungen (Angst-, Ess-, Zwangs- und Posttraumatische Belastungsstörungen, Suchterkrankungen usw.) und sind – vermutlich – jeweils höchstens im einstelligen Prozentbereich. Eine weitere etwas grössere Gruppe könnten evtl. frühkindliche Störungen ausmachen (siehe unten).
Obwohl diese Zahlen nur einen sehr überschlagsmässigen Eindruck vermitteln können, sind sie sicher deutlich näher an der Realität, als das seit 20 Jahren erzählte Märchen, dass die meisten psychisch kranken IV-Bezüge*innen an «unklaren Beschwerdebildern» leiden würden.
Junge IV-Bezüger*innen mit psychischen Krankheiten
Meine obige Rangfolge deckt sich auch mit den Resultaten aus dem BSV-Forschungsbericht «Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten» (2015). Die Forschenden hatten dafür die effektiven rentenbegründenden Diagnosen aus den Dossiers entnommen und dabei zeigte sich bei den älteren Neurentenbeziehenden dieselbe Verteilung. Auch hier sind die (blau eingefärbten) «erwachsenenpsychiatrischen» Störungen Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen und affektive Störungen die drei häufigsten Rentengründe:
Bei den ganz jungen Neurentenbezüger*innen sind schwerwiegende Verhaltens und- Entwicklungsstörungen, die oft mit einer Intelligenzminderung (also einer geistigen Behinderung) einhergehen die häufigsten Diagnosen. Diese Fälle werden oft mit dem IV-Code 649 («Übrige geistige und charakterliche Störungen») versehen, der allerdings (wie der Code 646) keinen Aufschluss über die effektive Diagnose zulässt. Aus diesem Grund habe ich den Code 649 nicht in die obige Gesamtauswertung einbezogen, obwohl er mit insgesamt rund 15’000 Versicherten (aller Altersklassen) eine recht grosse Kategorie darstellt
Insgesamt dürften aber die schwerwiegenden frühkindlichen Störungen (die auch noch unter anderen Codes figurieren und früher vielleicht teils unter «geistiger Behinderung» codiert wurden) ebenfalls eine zahlenmässig wichtige Kategorie darstellen. Wie der BSV-Forschungsbericht über die jungen Neurentenbeziehenden zeigte, sind diese frühen Störungen häufig mit Sonderschulbesuch und späterer Beschäftigung im geschützten Rahmen assoziiert.
Dass es sich bei den jungen IV-Bezüger*innen mit psychischen Störungen vor allem um gesundheitlich kaum beeinträchtigte «Nullbockjugendliche, die lieber Party machen statt zu arbeiten» handeln würde, ist also eine weitere bloss «gefühlte» Wahrheit, die effektiv nicht zutrifft. Aufgrund derer aber jungen Menschen mit psychischer Beeinträchtigung beinahe den Zugang zur IV-Rente verschlossen worden wäre.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann erzählen sie das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern immer noch
Nach all dem in den letzten drei Artikeln Dargelegten braucht man schon eine gewaltige Portion Chuzpe, um im Jahr 2018 die Systemrelevanz seiner juristischen Doktorarbeit über den IV-Rentenanspruch bei psychosomatischen Leiden folgendermassen zu rechtfertigen:
Die Zunahme der Anzahl IV-Renten geschah primär aufgrund psychosomatischer Leiden, nicht wegen eines erheblichen Anstiegs anderer psychischer Leiden wie schweren depressiven Störungen, Schizophrenie, Zwangs-, Ess-, Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Die moderate Systemrelevanz dieser psychischen Störungen im Bereich der IV-Renten ist nicht vergleichbar mit der hohen Bedeutung psychosomatischer Leiden.
Gerber Kaspar: Psychosomatische Leiden und IV-Rentenanspruch: ein juristisch-medizinischer Zugang über IV-versicherte Gesundheitsschäden, funktionelle Einschränkungen und Beweisfragen auf Basis von BGE 141 V 281 (2018)
Möchte jemand wissen, wer das Zweitgutachten zu dieser Dissertation erstellt hat?
Es war Prof. em. Dr. Erwin Murer.
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«Die IV war gar nie für psychisch Kranke gedacht»
Da die Dossieranalyse zum Code 646 erst 2009 und der Forschungsbericht zur eingliederungsorientierten Rentenrevision 2015 veröffentlicht wurden, konnten Murer und Cardinaux 2003 natürlich noch nicht wissen, dass die überwiegende Mehrheit der aus psychischen Gründen Berenteten gar nicht an «unklaren» Krankheitsbildern leidet und dass deren Krankheitslast zudem meist so gross ist, dass eine Eingliederung nicht möglich ist. Die Frage ist einfach, ob die Herren Juristen das überhaupt wissen wollten. Oder ob es ihnen eh schlicht egal war, weil es nämlich vielmehr darum ging, psychisch Kranken generell den Zugang zu IV-Leistungen zu verwehren, weil diese – historisch gesehen – ja sowieso kein Anrecht darauf hätten:
Für den historischen Gesetzgeber der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts standen praktisch ausschliesslich die physischen und geistigen Gesundheitsschäden im Vordergrund. Die psychischen Störungen kannte er kaum.
Murer, Erwin und Cardinaux, Basile: Notwendige Weichenstellungen in der IV. In: Soziale Sicherheit 6/2003, S. 337–339.
Murer/Cardianaux konstruieren aus der Tatsache, dass bei der Einführung der Invalidenversicherung im Gesetzestext nur «körperliche» und «geistige» Gesundheitsschäden erwähnt werden, einen faktischen Ausschluss von psychischen Erkrankungen. Psychische Erkrankungen wurden aber damals – dem Zeitgeist entsprechend – als Geisteskrankheiten bezeichnet und waren von Anfang an in der IV eingeschlossen.
Zu verdanken ist dies dem grossen Engagement von Psychiatern, die sich schon Jahre vor der Einführung der Invalidenversicherung dafür einsetzten, dass auch psychische Erkrankungen anerkannt wurden. Die Historikerin Daniela Jost zeigt dies in ihrer Masterarbeit «Charakterschwach» oder doch krank? – Psychische Krankheiten in der Geschichte der Eidgenössischen Invalidenversicherung» (2019) anhand von historischen Dokumenten (Briefwechsel, Publikationen, Protokolle von BSV-Expertengruppen ect.) auf. «Der Gesetzgeber der Fünfzigerjahre» kannte die psychischen Störungen also sehr wohl:
(…) dass das Bundesamt für Sozialversicherung der Ansicht sei, dass der Einbezug der geistig Invaliden in die Versicherung bejaht werden sollte.* Als Grund für die Position des BSV nennt er die Konsultation der «Eingabe der Psychiater, in welcher klar dargelegt wird, dass die Probleme hinsichtlich geistiger Invalidität sich nicht wesentlich von jenen der körperlichen Invalidität unterscheiden.
*Kaiser, Ernst: Einleitendes Referat an der ersten Sitzung der Eidgenössischen Expertenkommission für die Einführung der Invalidenversicherung vom 3.-7. Oktober 1955, Referat, Bd. 1, in: Protokolle der Eidgenössischen Expertenkommission für die Einführung der Invalidenversicherung
Lobbyierende Psychiater
Es würde den Rahmen sprengen, die in der Masterarbeit von Daniela Jost dokumentierte Lobbyarbeit der Psychiater detailliert nachzuzeichnen, aber folgende Auszüge zu den wichtigsten Protagonisten, ihren Argumenten und Forderungen zeigen, mit welcher Klarheit und Entschiedenheit die Psychiater die Gleichberechtigung von psychisch Kranken forderten:
Maurice Rémy, Direktor der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Marsens FR, Präsident der Vereinigung der Direktoren der Psychiatrischen Kliniken und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie SGP, hielt 1958 fest,
dass die Schweiz mehr als 20’000 hospitalisierte Psychiatriefälle aufweise. Der Grossteil dieser Kranken stamme aus armen Verhältnissen, weshalb 80% auf öffentliche Fürsorgegelder angewiesen seien.
Maurice Remy an Nationalrat Max Aebischer: Geisteskranke in der Invalidenversicherung, Stellungnahme 17.11.1958
Henri Bersot, Direktor der privaten psychiatrischen Heilanstalt Bellevue in Le Landeron und Generalsekretär des Komitees für geistige Hygiene:
Die Idee, öffentliche Mittel nur den körperlich Invaliden zukommen zu lassen, bezeichnet Bersot als willkürlich und ungerecht. Er weist ausserdem darauf hin, dass körperlich Behinderte aufgrund ihres Handicaps zumeist auch unter psychischen Problemen oder Störungen des Nervensystems litten. Ein weiteres Anliegen ist Bersot die Gleichstellung von körperlich und geistig Behinderten in der beruflichen Eingliederung. So fordert er nicht nur generell Eingliederungsmöglichkeiten für geistig Behinderte – also auch psychisch Kranke – sondern explizit dieselben Eingliederungsmöglichkeiten wie für körperlich Kranke, und dies auch am selben Ort, also in denselben Ateliers oder Werkstätten.
Bersot, Henri: Les invalides mentaux doivent être compris dans l’aide qu’on demande à la Confédération d’instituer en faveur des invalides, Bericht ans BSV 07.1955
André Repond, Präsident des Komitees für geistige Hygiene sowie Direktor der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Malévoz VS und Mitglied internationaler Gremien der WHO:
Repond weist darauf hin, dass die Pro Infirmis zwar die Geistesschwachen vertreten würde, psychisch Kranke aber gemäss ihren Statuten kategorisch aus ihren Aktivitäten ausschliesse. Er kündigt daher an, dass verschiedene bestehende Psychiatrieorganisationen die Gründung einer Dachorganisation in Erwägung ziehen, welche die Interessen der psychisch kranken Invaliden gegenüber dem BSV vertreten soll. Diesen Schritt erachtet Repond aus verschiedenen Gründen als zwingend notwendig:
«Cette représentation nous paraît d’autant plus nécessaire que les invalides et malades mentaux ne peuvent se défendre eux-mêmes, alors que toutes les autres catégories d’invalides en sont capables. Dès l’abord aussi je dois vous dire que les psychiatres sont opposés à ce que la […] SAEB représente les questions de réintégration professionnelle des invalides mentaux. Cette Association n’a montré aucun intérêt quelconque pour ces problèmes et, de plus, elle nous paraît totalement dépourvue de compétences pour le faire.»*
*André Répond an Bundesamt für Sozialversicherung – Direktor Arnold Saxer: Anfrage betreffend Dachorganisation, Korrespondenz 22.03.1957
Aus diesen Auszügen wird auch klar, weshalb die Psychiater diese Lobbyarbeit übernahmen. Die Pro Mente Sana gab es noch nicht und die bereits existierenden Behindertenorganisationen kümmerten sich explizit nicht um psychisch Kranke bzw. zeigten diesbezüglich weder Interesse noch Kompetenz (Das kommt einem auch noch über 60 Jahre später irgendwie bekannt vor).
Die Psychiater erreichten jedenfalls, dass auch psychische Leiden grundsätzlich von der IV anerkannt wurden. Die gesellschaftlichen, medizinischen und juristischen Debatten darüber, welche Leiden nun genau versichert sein sollten und wo die Grenzen zwischen «Simulation», Krankheit und «Charakterschwäche» verlaufen, hatten allerdings schon vor der Einführung der IV begonnen und dauern bis heute an.
IV-Codierung basiert immer noch auf dem ICD aus den 50er Jahren
Bei der Einführung der IV existierte noch keine Gebrechensliste. Erst ab 1966 wurde eine Aufschlüsselung nach Invalidiätsursachen vorgenommen. Bei der Ausarbeitung dieser Liste stützte man sich auf die in den 50er Jahren gültige Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD 6). Folgende Übersicht aus der «Allgemeinen Systematik der Krankheiten und Todesursachen» diente offensichtlich als Vorlage für die Codierung der psychischen Erkrankungen:
Man beachte, dass im ICD 6 «Schwachsinn» (also geistige Behinderung) im selben Kapitel gelistet ist, wie die psychischen Erkrankungen. Das ist auch im aktuell gültigen ICD 10 noch so (allerdings heisst es mittlerweile nicht mehr «Schwachsinn», sondern «Intelligenzminderung»). Aus dem IV-Kreisschreiben von 1965 ist ersichtlich, dass die IV davon abwich und die geistigen Behinderungen dem Kapitel «Angeborene Leiden» zuwies («siehe unter XXI»). Der Gesetzgeber kannte – und machte – damals also durchaus einen sehr deutlichen Unterschied zwischen «geistigen» und «psychischen» Behinderungen:
Quelle: Bundesamt für Sozialversicherung 12.1965 – Kreisschreiben über die Durchführung der Gebrechensstatistik in der Invalidenversicherung, 12.1965 (Abbildung aus der Masterarbeit von Daniela Jost)
Der Vergleich mit den aktuellen Codes zur Gebrechens- und Leistungsstatistik (KSGLS-C) zeigt, dass die Codierungsgrundlagen der psychischen Krankheiten seit 1965 (abgesehen von einigen kosmetischen Details) praktisch nicht verändert wurde:
XXVI. Psychosen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen
641 Schizophrenie
642 Manisch-depressives Kranksein (Zyklothymie)
643 Organische Psychosen und Leiden des Gehirns
644 Übrige Psychosen (seltenere Fälle, die nicht unter 641–643 bzw. 841–843 eingereiht werden können, wie Mischpsychosen, sog. schizoaffektive Psychosen, Pfropfschizophrenie usw.); Involutionsdepressionen
645 Psychopathie
646 Psychogene oder milieureaktive Störungen; Neurosen; Borderline cases (Grenzbereich Psychose – Neurose); einfache psychische Fehlentwicklungen z.B. depressiver, hypochondrischer oder wahnhafter Prägung; funktionelle Störungen des Nervensystems und darauf beruhende Sprachstörungen, wie Stottern; psychosomatische Störungen, soweit sie nicht als körperliche Störungen codiert werden
647 Alkoholismus
648 Übrige Süchte (Toxikomanie)
649 Übrige geistige und charakterliche Störungen (einschliesslich Sprachentwicklungsstörungen)
Oligophrenie (Debilität, Imbezillität, Idiotie) – siehe unter XXI
Die Codierung der psychischen Krankheiten erfolgt also anno 2020 noch immer nach einem in den 60er Jahren eingeführten Klassifizierungssystem. Das ist an sich durchaus sinnvoll, da man dadurch zeitliche Entwicklungen abbilden kann bzw. könnte. Wenn die statistischen Daten denn einigermassen aussagekräftig wären. Wie im vorangehenden Artikel aufgezeigt, wird allerdings die Hälfte der rund 100’000 psychisch bedingten IV-Renten mit dem Code 646 versehen, der für eine grosse Bandbreite von psychischen Krankheiten vergeben wird. Aus der Dossieranalyse von 2009 war ersichtlich, dass der häufigste Berentungsgrund in der Kategorie 646 damals mit 30% Persönlichkeitsstörungen darstellten, gefolgt von Depressionen (15%), und somatoformen Störungen (12,5%). Wie sich die Zusammensetzung dieser Gruppe vor oder nach 2009 verändert hat, kann allerdings niemand sagen.
Diese grosse Unklarheit über die effektiven Diagnosen bietet – wie vorangehend ausgeführt – bis heute ein hervorragendes politisches Instrument, um die Zunahme der IV-Bezüger*innen mit psychischen Erkrankungen auf «unklare Fälle» oder «neue Krankheitsbilder», zurückzuführen und darauf basierend deren Ausschluss von IV-Leistungen zu legitimeren.
«Neue» Krankheitsbilder?
Das perfide am Narrativ über die angeblich «neuen» und «unklaren» Krankheiten ist, dass viele psychiatrische Krankheitsbilder weder «unklar» noch «neu» sind. Das ICD 6 aus den 50er Jahren listete nämlich bereits sehr detaillierte Differenzierungen zu den einzelnen Krankheitsbildern auf. z.B. zu verschiedenen Arten von Persönlichkeitsstörungen oder *hier bitte Trommelwirbel einfügen* zu psychosomatischen (damals noch «psychogen» genannten) Störungen:
Die Bezeichnungen mögen sich im Laufe der Zeit verändert haben, aber die Krankheitsbilder wurden nicht «neu erfunden». Dass diese u.a. vom damaligen SVP-Bunderat Christoph Blocher in die Welt gesetzte Lüge unendlich oft wiederholt wurde, macht sie nicht wahrer. Besonders fragwürdig ist auch, dass das Märchen von den «vielen neuen und unklaren psychischen Krankheitsbildern» sogar ein halbes Jahr nach der Publikation der Dossieranalyse (BSV 2009) in der Botschaft zur IV-Revision immer noch wiederholt wurde:
Die Versicherung und ihre Akteure waren – und sind z.T. heute noch – nicht in der Lage, angemessen auf die starke Zunahme der psychischen Krankheiten zu reagieren, da es sich um neue Formen psychischer Erkrankungen handelt, welche schwierig zu diagnostizieren sind und sich kaum objektivieren lassen.
Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket) vom 24. Februar 2010
Dass die Versicherung und ihre Akteure nicht in der Lage waren, angemessen zu reagieren, liegt nicht an den vermeintlich unklaren Krankheitsbildern, es liegt vor allem an der ungenauen Codierung. Und an den ganzen politischen und juristischen Scheingefechten, die auf dieser fehlenden Datengrundlage aufgebaut werden konnten.
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Zusammenfassung (Für alle 3 Artikel): Bis in die Mitte der 2000er Jahre stieg die Anzahl der IV-Bezüger*innen stark an. Gleichzeitig wurde der Schuldenberg der chronisch unterfinanzierten Invalidenversicherung immer höher. Das dazu seit 20 Jahren unendlich oft wiederholte Narrativ geht so: Der Anstieg der Renten (und damit auch das Defizit der IV) sei vor allem auf neue «nicht objektivierbare Krankheitsbilder» zurückzuführen. Die einst für «echte» Behinderte geschaffene IV würde durch «unechte» Behinderte unterwandert und ausgehöhlt. Um das angeschlagene Sozialwerk zu sanieren, müsste es einfach wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt und IV-Renten deshalb nur für «echte» Behinderte zugänglich sein.
Das komplexe Problem der stark zunehmenden Rentenzahlen vor allem aufgrund von psychischen Erkrankungen wurde so auf eine einfache «Lösung» reduziert. Bei dieser reduzierten Sichtweise spielte die effektive Erwerbsfähigkeit von Menschen mit psychischen Störungen kaum eine Rolle. Der zentrale Punkt war vielmehr: Wie bekommen wir «die» aus der IV raus?
In der bis heute andauernden Diskussion um die – angeblich – «neuen» und «unklaren» Beschwerdebilder griff nicht nur der damalige SVP-Bundesrat Christoph Blocher zur dreisten Lüge, auch die Argumentationslinien von diversen anderen Akteuren basierten bei näherer Betrachtung zumindest teilweise eher auf «Gefühltem», denn auf effektiven Fakten.
Zentral waren dabei zwei Behauptungen: Unsichtbare Krankheiten sind keine «richtigen» Krankheiten. Und: für «die» war die IV nie gedacht!
Fakt ist: Bereits bei der Einführung der IV wurde anerkannt, dass auch psychische Erkrankungen die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen können. Die in den 60er Jahren von der Verwaltung für psychische Leiden geschaffenen – und bis heute von der IV verwendeten – Kategorien geben allerdings keine genaue Auskunft über die tatsächlichen Diagnosen der Versicherten. Damit die Diskussion um psychische Leiden in der IV endlich auf Basis einer seriösen Datengrundlage (statt aufgrund irgendwelcher «gefühlter» Wahrheiten) geführt werden kann, sollte das BSV baldmöglichst ein modernes und differenziertes Codierungssystem einführen.
«Früher gab’s das nicht!» (Doch, gab es)
Bei der Diskussion um die Gründe für die starke Zunahme psychisch bedingter Invalidisierungen stehen sich zwei Lager gegenüber. Die eine Seite ist der Meinung, dass daran der «Druck in der heutigen Arbeitswelt» schuld sei, während die Gegenseite das für kompletten Unsinn hält und in psychischen Erkrankungen vielmehr eine Art «Wohlstandsverwahrlosung» sieht. Als der Jurist Basile Cardinaux 2004 die Blaupause dafür schrieb, wie man durch erhöhte Beweisanforderungen psychische Krankheitsbilder juristisch korrekt von IV-Leistungen ausschliessen kann:
Als weiteren Ansatz liesse sich vorstellen, die zugelassenen Beweismittel abschliessend zu nennen. Die Zulassung liesse sich etwa auf den bildtechnischen, laborchemischen und genetischen Nachweis beschränken.
rechtfertigte er seine Überlegungen u.a. folgendermassen:
Und nochmals: Wieviele Leute würden depressiv, wenn keine finanzielle Absicherung bestünde? Nicht zu Unrecht wird in dieser Debatte an die früheren Zeiten erinnert, in denen die Depression noch kaum wahrgenommen wurde, oder auf die Entwicklungsländer verwiesen, in denen die Leute andere Sorgen und keine Zeit für eine Depression haben.
Basile Cardinaux: Ausschluss gewisser Krankheiten von der IV-Deckung?, in: Erwin Murer (Hrsg.), Die 5. IVG-Revision: Kann sie die Rentenexplosion stoppen?, Bern 2004, S.183ff
Cardinaux’ Rechtfertigung steht auf ziemlich dünnem Eis. Auch in Entwicklungsländern leiden Menschen unter psychischen Störungen. Betroffene bekommen dort allerdings meist keine angemessene Behandlung, werden von ihren Familien versteckt oder verstossen und vegetieren oft unter menschenunwürdigen Bedingungen dahin.
Und in der Schweiz wurden bereits hundert Jahre vor der Einführung der Invalidenversicherung an verschiedenen Standorten psychiatrische Kliniken eröffnet. Beides spricht eher nicht für die steile These, dass psychische Krankheiten durch die Aussicht auf eine IV-Rente ausgelöst werden.
Die Prävalenz psychischer Störungen hat insgesamt auch nicht zugenommen. Psychische Erkrankungen waren schon immer sehr häufig:
Die Erklärung für die deutlichen Zunahmen in den Krankenkassenstatistiken liegt aber nicht in einer Erhöhung der allgemeinen Prävalenz psychischer Störungen in der Bevölkerung. Eine differenzierte Betrachtung auf Grundlage epidemiologischer Befunde ergibt eher, dass der Erkenntnisstand zu psychischen Störungen aufholt (d.h., dass vermehrte Krankschreibungen die wahre Krankheitslast psychischer Störungen nunmehr realistischer widerspiegeln, als dies in früheren Zeiten der Fall war).
Jacobi, F. (2009). Nehmen psychische Störungen zu? Report Psychologie, 34(1), 16-28.
Wenn das eigene Betriebssystem das reibungslose Funktionieren sabotiert
Es ist also auch nicht die «moderne Arbeitswelt», welche die Leute heute – vorgeblich – häufiger psychisch erkranken lässt (obwohl schlechte Arbeitsbedingungen im Einzelfall natürlich durchaus eine Rolle spielen können). Viel eher ist es wohl so, dass sich in einer streng durchgetakteten Arbeitswelt, in der kognitive Fähigkeiten, Stressresistenz, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit usw. sehr wichtig sind, schon (vergleichsweise) «leichtere» psychische Störungen zwar nicht immer invalidisierend, aber doch behindernd auf die Erwerbsfähigkeit auswirken.
Der Journalist Constantin Seibt beschrieb kürzlich anschaulich (und sehr unterhaltsam) wie ihn seine ADHS-Erkrankung aller Disziplin zum Trotz sowohl beruflich wie auch privat immer wieder in unerquickliche Situationen bringt:
Das Peinliche daran ist, dass die Sabotage noch vor dem Zugriff des Bewusstseins stattfindet. Und damit noch vor dem Willen.
Was heisst, mit ADHS sind Sie jederzeit fähig, die eigenen Pläne oder Prinzipien zu durchbrechen. Und egal was zu vergessen – jeden Termin, jeden Vorsatz, jedes Versprechen. Nicht zu reden von Vorsicht und Vernunft. Selbst wenn Sie es schaffen, Ihre Handlungen so diszipliniert wie möglich unter Kontrolle zu bringen – möglich ist ein Fuck-up immer.
(…)
Sie machen also immer wieder Sachen, bei denen die Menschen in Ihrer Umgebung nicht darum herumkommen, sich zu fragen: Sind Sie blöd? Oder unsensibel, arrogant, desinteressiert? Oder taten Sie das mit voller, böswilliger Absicht?
Ihre Antwort?
Nun, Ihr Problem ist, dass Sie sich exakt dasselbe fragen.
Berufliche Komplikationen sind damit natürlich vorprogrammiert:
Sollte Ihnen Ihr Leben lieb sein, können Sie vergessen, in einem durchschnittlichen Beruf mit durchschnittlichen Leuten konkurrieren zu wollen. Selbst wenn Sie kompetenter sind, werden Ihre Fehler Sie erledigen. Sie müssen sich etwas anderes einfallen lassen – und auf exotische Gebiete ausweichen: Wo Ihre Schwächen zu Stärken werden.
Nun gibt es nicht allzu viele Berufe, bei denen es von Vorteil ist, wenn man ständig Dinge, Termine und alles mögliche vergisst. Was Seibt vermutlich meint; es ist von Vorteil, wenn man seine – krankheitsbedingten – Schwächen durch herausragende Stärken kompensieren kann. Nur werden psychische Störungen leider nicht serienmässig mit zusätzlichen Spezialbegabungen ausgeliefert. Das grossartige Genie, bei dem Chefinnen, Kollegen oder Auftraggeber regelmässig über chronische Unzuverlässigkeit, schwierige Persönlichkeit (und was psychische Krankheiten sonst noch so an Ungemach im Angebot haben) hinwegschauen, kommt vor, ist aber eher eine Ausnahmeerscheinung. In der Realität werden die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen häufig als Charakterschwäche wahrgenommen und die Probleme mit «schwierigen» Mitarbeitenden meist mit einer Kündigung «gelöst» («Schwierige» Mitarbeiter, BSV 2011).
Der Wille sich differenziert damit zu befassen, wie und warum sich psychische Erkrankungen ganz konkret auf die Erwerbsfähigkeit auswirken können, scheint allerdings bei manchen Jurist*innen umgekehrt proportional zu ihrer Besessenheit mit «unklaren» Krankheitsbildern zu sein.
Der Rechtsprofessor und die «unklaren» Beschwerdebilder
Der Freiburger Sozialversicherungsrechtsprofessor Erwin Murer (mittlerweile emeritiert) war ein wichtiger Protagonist in der öffentlichen Diskussion um die angeblich «unklaren» Beschwerdebilder. Murer hat sich stets pointiert und mit viel Fachwissen in unzähligen Publikationen zur Thematik geäussert und wurde dementsprechend häufig zitiert. Gerade weil viele seiner Ausführungen durchaus durchdacht und nachvollziehbar waren (z.B. plädierte Murer für die Früherfassung), wurden von einem breiten (Fach)publikum auch Aussagen für bare Münze genommen, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten.
2003 behauptete Murer (zusammen mit Basile Cardinaux, siehe oben, damals Diplomassistent, später Nachfolger von Murer):
Am stärksten treiben die so genannten Versicherungsfälle unklarer Kausalität die Rentenzahlen in die Höhe.
Murer, Erwin und Cardinaux, Basile: Notwendige Weichenstellungen in der IV. In: Soziale Sicherheit 6/2003, S. 337–339.
Diese Behauptung hat Murer über die Jahre hinweg unzählige Male geäussert und sie wurde von allen möglichen anderen Protagonist*innen immer wieder gerne aufgenommen. So zum Beispiel von Bütler/Gentinetta in ihrem Buch «Die IV – Eine Krankengeschichte» (2007), und – natürlich – auch von Exponenten der SVP:
Hauptursache sind aber ganz klar invaliditätsfremde Gründe nach Art. 8 ATSG. Es sind unklare Fälle und sie mit einer IV-Rente zu versehen ist als rechtswidrig zu bezeichnen.
Schluss mit der Scheininvalidität, Referat von SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi, 29. Oktober 2004
Die Bestimmtheit, mit der Murer et al. die stark gestiegenen Rentenzahlen auf Fälle «unklarer» Kausalität zurückführten, steht in starkem Kontrast zu effektiven Beweislage dieser Behauptung. Es existiert nämlich überhaupt keine IV-Statistik über «unklare Fälle». Es gibt verschiedene Kategorien für psychische Erkrankungen. Und bei einer Kategorie (IV-Code «646») war die Rentenzahl bis Mitte der Nuller Jahre auf 50’000 angestiegen und machte somit die Hälfte der psychischen Störungen aus. Beim Code 646 handelt es sich um eine Sammelkategorie, in der ganz verschiedene Störungen (u.a. auch psychosomatische Erkrankungen) figurieren. Deshalb konnte zu diesem Zeitpunkt niemand sagen, auf welche Diagnosen das starke Rentenwachstum in dieser Kategorie genau zurückzuführen war. Auch nicht Herr Murer.
Dossieranalyse Code 646: Von wegen «unklar»
Um Aufschluss über die effektiven Diagnosen und ihre Häufigkeit in der Kategorie 646 zu erhalten, liess das BSV eine sehr aufwändige Dossieranalyse erstellen (Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen – Typologisierung der Personen, ihrer Erkrankungen, Belastungen und Berentungsverläufe, 2009). Auf dieser Abbildung aus dem Forschungsbericht ist ersichtlich, dass der mit knapp einem Drittel der Versicherten weitaus häufigste Berentungsgrund in der Kategorie 646 zum damaligen Zeitpunkt eine Persönlichkeitsstörung (F60) war:
Insbesondere der Diagnosegruppe 646 wird häufig unterstellt, es handle sich um „schwer objektivierbare“ Krankheiten. (…) Die effektiven Diagnosen – seien es die lifetime-Diagnosen oder auch die als rentenbegründend eingeschätzten Diagnosen – widersprechen diesem Bild von unspezifischen, unklaren oder „nicht wirklichen“ Störungen: Persönlichkeitsstörungen sind unflexible und andauernde unangepasste Verhaltensmuster, die mit einer sehr hohen funktionellen Belastung und diversen Beeinträchtigungen verbunden sind. Dass sie von Laien oft nicht als Störungen erkannt werden, bedeutet nicht, dass sie schwer objektivierbar oder in Bezug auf die Arbeitsbeeinträchtigungen vernachlässigbar wären.
Die zweithäufigste Diagnose waren Depressionen (15%) und an dritter Stelle stehen schliesslich die somatoformen Störungen mit 12,6%. Da die Gesamtzahl aller Renten aus psychischen Gründen 2009 bei 100’000 lag und die Gesamtzahl aller Renten (inklusive somatische) bei 240’000, machten die somatoformen Störungen damals also gerade mal 6,3% aller Renten aus psychischen und Gründen und 2.6% aller Renten aus. Ob das reicht, um die IV zu ruinieren, ist doch eher… zweifelhaft.
Aus der obigen Abbildung ist auch ersichtlich, dass es sich bei der Kategorie 646 in der Tat um eine «Kraut und Rüben»-Kategorie handelt, in der einfach alles (u.a. auch somatische Erkrankungen) abgelegt werden. Aus dem Fazit der Studienautor*innen:
Zum anderen, und dies ist auch politisch von Bedeutung, wurde damit eine unscharf definierte Rentenkategorie erheblich grösser gemacht als sie tatsächlich ist. Ganz grob wäre bei gut 25% der 646-Berenteten eine andere Kategorisierung zumindest denkbar gewesen. Erkrankungen wie beispielsweise eine paranoide Schizophrenie oder Geburtsgebrechen wie Minderintelligenz gehören hingegen sicher nicht in diese Gruppe.
Da gerade der 646-Kategorie die Meinung anhaftet, es handle sich überwiegend um nicht objektivierbare Krankheiten, verstärkt die unscharfe Abgrenzung der Kategorie und die zu häufige Zuteilung die nach wie vor bestehende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen als Befindlichkeiten ohne Krankheitswert. Die hier vorliegenden Resultate zeigen demgegenüber, dass es sich bei der starken Zunahme der 646-Renten um eine Zunahme meist klar beschreibbarer Krankheitsbilder handelt.
Baer N, Frick U, Fasel T. (2009), Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen.
«Die können doch alle arbeiten!»
In der Politik wurden die Resultate der BSV-Studie nur äusserst selektiv wahrgenommen. Offenbar basierend auf obigen Zahlen wurde in der Botschaft zur IV-Revision 6a (2010) festgelegt, dass rund 4’500 gewichtete Renten aufgrund von «somatoformen Schmerzstörungen und ähnlichen Sachverhalten» aufgehoben werden sollten. Weil das wohl etwas schmürzelig aussah, nahm man noch 8000 Versicherte mit «psychischen Störungen» dazu, deren Renten ebenfalls aufgehoben werden sollten, da man bei den Betroffenen «Eingliederungspotential» vermutete. Worauf diese Vermutung basierte, ist unklar, aber sechs Jahre später konnte man im Tages Anzeiger lesen:
Eine grosse Mehrheit der IV-Stellen beklagt in dem vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bestellten Bericht, «dass die sehr aufwendige Umsetzung in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen stehe». «Politik und Verwaltung haben das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wiedereingliederung enorm überschätzt.»
Und auch die Rentenstreichungen bei den somatoformen Störungen (die rein juristisch – also unabhängig davon, ob eine Eingliederung effektiv möglich war, vorgenommen wurden) liefen nicht ganz wie geplant:
Ziel war, 4500 Vollrenten zu streichen. Nach Abschluss aller Verfahren dürften es aber deutlich weniger als 1000 sein. Hier hat die IV unterschätzt, dass die Betroffenen meist noch Begleiterkrankungen haben, die zur Rente berechtigen.
IV-Bezüger finden kaum mehr Arbeit, Tages Anzeiger 09.02.2016
Beim deutlich überwiegenden Teil der aus psychischen Gründen Berenteten handelte es sich also offenbar um tatsächlich gesundheitlich stark beinträchtigte Menschen.
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