Sonntag, 23. Februar 2020

Das Märchen von den «unklaren» Beschwerdebildern [1/3]

Zusammenfassung (Für alle 3 Artikel): Bis in die Mitte der 2000er Jahre stieg die Anzahl der IV-Bezüger*innen stark an. Gleichzeitig wurde der Schuldenberg der chronisch unterfinanzierten Invalidenversicherung immer höher. Das dazu seit 20 Jahren unendlich oft wiederholte Narrativ geht so: Der Anstieg der Renten (und damit auch das Defizit der IV) sei vor allem auf neue «nicht objektivierbare Krankheitsbilder» zurückzuführen. Die einst für «echte» Behinderte geschaffene IV würde durch «unechte» Behinderte unterwandert und ausgehöhlt. Um das angeschlagene Sozialwerk zu sanieren, müsste es einfach wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt und IV-Renten deshalb nur für «echte» Behinderte zugänglich sein.

Das komplexe Problem der stark zunehmenden Rentenzahlen vor allem aufgrund von psychischen Erkrankungen wurde so auf eine einfache «Lösung» reduziert. Bei dieser reduzierten Sichtweise spielte die effektive Erwerbsfähigkeit von Menschen mit psychischen Störungen kaum eine Rolle. Der zentrale Punkt war vielmehr: Wie bekommen wir «die» aus der IV raus?

In der bis heute andauernden Diskussion um die – angeblich – «neuen» und «unklaren» Beschwerdebilder griff nicht nur der damalige SVP-Bundesrat Christoph Blocher zur dreisten Lüge, auch die Argumentationslinien von diversen anderen Akteuren basierten bei näherer Betrachtung zumindest teilweise eher auf «Gefühltem», denn auf effektiven Fakten.

Zentral waren dabei zwei Behauptungen: Unsichtbare Krankheiten sind keine «richtigen» Krankheiten. Und: für «die» war die IV nie gedacht!

Fakt ist: Bereits bei der Einführung der IV wurde anerkannt, dass auch psychische Erkrankungen die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen können. Die in den 60er Jahren von der Verwaltung für psychische Leiden geschaffenen – und bis heute von der IV verwendeten – Kategorien geben allerdings keine genaue Auskunft über die tatsächlichen Diagnosen der Versicherten. Damit die Diskussion um psychische Leiden in der IV endlich auf Basis einer seriösen Datengrundlage (statt aufgrund irgendwelcher «gefühlter» Wahrheiten) geführt werden kann, sollte das BSV baldmöglichst ein modernes und differenziertes Codierungssystem einführen.


«Früher gab’s das nicht!» (Doch, gab es)


Bei der Diskussion um die Gründe für die starke Zunahme psychisch bedingter Invalidisierungen stehen sich zwei Lager gegenüber. Die eine Seite ist der Meinung, dass daran der «Druck in der heutigen Arbeitswelt» schuld sei, während die Gegenseite das für kompletten Unsinn hält und in psychischen Erkrankungen vielmehr eine Art «Wohlstandsverwahrlosung» sieht. Als der Jurist Basile Cardinaux 2004 die Blaupause dafür schrieb, wie man durch erhöhte Beweisanforderungen psychische Krankheitsbilder juristisch korrekt von IV-Leistungen ausschliessen kann:

Als weiteren Ansatz liesse sich vorstellen, die zugelassenen Beweismittel abschliessend zu nennen. Die Zulassung liesse sich etwa auf den bildtechnischen, laborchemischen und genetischen Nachweis beschränken.

rechtfertigte er seine Überlegungen u.a. folgendermassen:

Und nochmals: Wieviele Leute würden depressiv, wenn keine finanzielle Absicherung bestünde? Nicht zu Unrecht wird in dieser Debatte an die früheren Zeiten erinnert, in denen die Depression noch kaum wahrgenommen wurde, oder auf die Entwicklungsländer verwiesen, in denen die Leute andere Sorgen und keine Zeit für eine Depression haben.

Basile Cardinaux: Ausschluss gewisser Krankheiten von der IV-Deckung?, in: Erwin Murer (Hrsg.), Die 5. IVG-Revision: Kann sie die Rentenexplosion stoppen?, Bern 2004, S.183ff

Cardinaux’ Rechtfertigung steht auf ziemlich dünnem Eis. Auch in Entwicklungsländern leiden Menschen unter psychischen Störungen. Betroffene bekommen dort allerdings meist keine angemessene Behandlung, werden von ihren Familien versteckt oder verstossen und vegetieren oft unter menschenunwürdigen Bedingungen dahin.
Und in der Schweiz wurden bereits hundert Jahre vor der Einführung der Invalidenversicherung an verschiedenen Standorten psychiatrische Kliniken eröffnet. Beides spricht eher nicht für die steile These, dass psychische Krankheiten durch die Aussicht auf eine IV-Rente ausgelöst werden.

Die Prävalenz psychischer Störungen hat insgesamt auch nicht zugenommen. Psychische Erkrankungen waren schon immer sehr häufig:

Die Erklärung für die deutlichen Zunahmen in den Krankenkassenstatistiken liegt aber nicht in einer Erhöhung der allgemeinen Prävalenz psychischer Störungen in der Bevölkerung. Eine differenzierte Betrachtung auf Grundlage epidemiologischer Befunde ergibt eher, dass der Erkenntnisstand zu psychischen Störungen aufholt (d.h., dass vermehrte Krankschreibungen die wahre Krankheitslast psychischer Störungen nunmehr realistischer widerspiegeln, als dies in früheren Zeiten der Fall war).

Jacobi, F. (2009). Nehmen psychische Störungen zu? Report Psychologie, 34(1), 16-28.


Wenn das eigene Betriebssystem das reibungslose Funktionieren sabotiert


Es ist also auch nicht die «moderne Arbeitswelt», welche die Leute heute – vorgeblich – häufiger psychisch erkranken lässt (obwohl schlechte Arbeitsbedingungen im Einzelfall natürlich durchaus eine Rolle spielen können). Viel eher ist es wohl so, dass sich in einer streng durchgetakteten Arbeitswelt, in der kognitive Fähigkeiten, Stressresistenz, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit usw. sehr wichtig sind, schon (vergleichsweise) «leichtere» psychische Störungen zwar nicht immer invalidisierend, aber doch behindernd auf die Erwerbsfähigkeit auswirken.

Der Journalist Constantin Seibt beschrieb kürzlich anschaulich (und sehr unterhaltsam) wie ihn seine ADHS-Erkrankung aller Disziplin zum Trotz sowohl beruflich wie auch privat immer wieder in unerquickliche Situationen bringt:

Das Peinliche daran ist, dass die Sabotage noch vor dem Zugriff des Bewusstseins stattfindet. Und damit noch vor dem Willen.
Was heisst, mit ADHS sind Sie jederzeit fähig, die eigenen Pläne oder Prinzipien zu durchbrechen. Und egal was zu vergessen – jeden Termin, jeden Vorsatz, jedes Versprechen. Nicht zu reden von Vorsicht und Vernunft. Selbst wenn Sie es schaffen, Ihre Handlungen so diszipliniert wie möglich unter Kontrolle zu bringen – möglich ist ein Fuck-up immer.
(…)
Sie machen also immer wieder Sachen, bei denen die Menschen in Ihrer Umgebung nicht darum herumkommen, sich zu fragen: Sind Sie blöd? Oder unsensibel, arrogant, desinteressiert? Oder taten Sie das mit voller, böswilliger Absicht?
Ihre Antwort?
Nun, Ihr Problem ist, dass Sie sich exakt dasselbe fragen.

Berufliche Komplikationen sind damit natürlich vorprogrammiert:

Sollte Ihnen Ihr Leben lieb sein, können Sie vergessen, in einem durchschnittlichen Beruf mit durchschnittlichen Leuten konkurrieren zu wollen. Selbst wenn Sie kompetenter sind, werden Ihre Fehler Sie erledigen. Sie müssen sich etwas anderes einfallen lassen – und auf exotische Gebiete ausweichen: Wo Ihre Schwächen zu Stärken werden.

Nun gibt es nicht allzu viele Berufe, bei denen es von Vorteil ist, wenn man ständig Dinge, Termine und alles mögliche vergisst. Was Seibt vermutlich meint; es ist von Vorteil, wenn man seine – krankheitsbedingten – Schwächen durch herausragende Stärken kompensieren kann. Nur werden psychische Störungen leider nicht serienmässig mit zusätzlichen Spezialbegabungen ausgeliefert. Das grossartige Genie, bei dem Chefinnen, Kollegen oder Auftraggeber regelmässig über chronische Unzuverlässigkeit, schwierige Persönlichkeit (und was psychische Krankheiten sonst noch so an Ungemach im Angebot haben) hinwegschauen, kommt vor, ist aber eher eine Ausnahmeerscheinung. In der Realität werden die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen häufig als Charakterschwäche wahrgenommen und die Probleme mit «schwierigen» Mitarbeitenden meist mit einer Kündigung «gelöst» («Schwierige» Mitarbeiter, BSV 2011).

Der Wille sich differenziert damit zu befassen, wie und warum sich psychische Erkrankungen ganz konkret auf die Erwerbsfähigkeit auswirken können, scheint allerdings bei manchen Jurist*innen umgekehrt proportional zu ihrer Besessenheit mit «unklaren» Krankheitsbildern zu sein.


Der Rechtsprofessor und die «unklaren» Beschwerdebilder


Der Freiburger Sozialversicherungsrechtsprofessor Erwin Murer (mittlerweile emeritiert) war ein wichtiger Protagonist in der öffentlichen Diskussion um die angeblich «unklaren» Beschwerdebilder. Murer hat sich stets pointiert und mit viel Fachwissen in unzähligen Publikationen zur Thematik geäussert und wurde dementsprechend häufig zitiert. Gerade weil viele seiner Ausführungen durchaus durchdacht und nachvollziehbar waren (z.B. plädierte Murer für die Früherfassung), wurden von einem breiten (Fach)publikum auch Aussagen für bare Münze genommen, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten.

2003 behauptete Murer (zusammen mit Basile Cardinaux, siehe oben, damals Diplomassistent, später Nachfolger von Murer):

Am stärksten treiben die so genannten Versicherungsfälle unklarer Kausalität die Rentenzahlen in die Höhe.

Murer, Erwin und Cardinaux, Basile: Notwendige Weichenstellungen in der IV. In: Soziale Sicherheit 6/2003, S. 337–339.

Diese Behauptung hat Murer über die Jahre hinweg unzählige Male geäussert und sie wurde von allen möglichen anderen Protagonist*innen immer wieder gerne aufgenommen. So zum Beispiel von Bütler/Gentinetta in ihrem Buch «Die IV – Eine Krankengeschichte» (2007), und – natürlich – auch von Exponenten der SVP:

Hauptursache sind aber ganz klar invaliditätsfremde Gründe nach Art. 8 ATSG. Es sind unklare Fälle und sie mit einer IV-Rente zu versehen ist als rechtswidrig zu bezeichnen.

Schluss mit der Scheininvalidität, Referat von SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi, 29. Oktober 2004

Die Bestimmtheit, mit der Murer et al. die stark gestiegenen Rentenzahlen auf Fälle «unklarer» Kausalität zurückführten, steht in starkem Kontrast zu effektiven Beweislage dieser Behauptung. Es existiert nämlich überhaupt keine IV-Statistik über «unklare Fälle». Es gibt verschiedene Kategorien für psychische Erkrankungen. Und bei einer Kategorie (IV-Code «646») war die Rentenzahl bis Mitte der Nuller Jahre auf 50’000 angestiegen und machte somit die Hälfte der psychischen Störungen aus. Beim Code 646 handelt es sich um eine Sammelkategorie, in der ganz verschiedene Störungen (u.a. auch psychosomatische Erkrankungen) figurieren. Deshalb konnte zu diesem Zeitpunkt niemand sagen, auf welche Diagnosen das starke Rentenwachstum in dieser Kategorie genau zurückzuführen war. Auch nicht Herr Murer.


Dossieranalyse Code 646: Von wegen «unklar»


Um Aufschluss über die effektiven Diagnosen und ihre Häufigkeit in der Kategorie 646 zu erhalten, liess das BSV eine sehr aufwändige Dossieranalyse erstellen (Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen – Typologisierung der Personen, ihrer Erkrankungen, Belastungen und Berentungsverläufe, 2009). Auf dieser Abbildung aus dem Forschungsbericht ist ersichtlich, dass der mit knapp einem Drittel der Versicherten weitaus häufigste Berentungsgrund in der Kategorie 646 zum damaligen Zeitpunkt eine Persönlichkeitsstörung (F60) war:


Dazu aus der Studie:

Insbesondere der Diagnosegruppe 646 wird häufig unterstellt, es handle sich um „schwer objektivierbare“ Krankheiten. (…) Die effektiven Diagnosen – seien es die lifetime-Diagnosen oder auch die als rentenbegründend eingeschätzten Diagnosen – widersprechen diesem Bild von unspezifischen, unklaren oder „nicht wirklichen“ Störungen: Persönlichkeitsstörungen sind unflexible und andauernde unangepasste Verhaltensmuster, die mit einer sehr hohen funktionellen Belastung und diversen Beeinträchtigungen verbunden sind. Dass sie von Laien oft nicht als Störungen erkannt werden, bedeutet nicht, dass sie schwer objektivierbar oder in Bezug auf die Arbeitsbeeinträchtigungen vernachlässigbar wären.

Die zweithäufigste Diagnose waren Depressionen (15%) und an dritter Stelle stehen schliesslich die somatoformen Störungen mit 12,6%. Da die Gesamtzahl aller Renten aus psychischen Gründen 2009 bei 100’000 lag und die Gesamtzahl aller Renten (inklusive somatische) bei 240’000, machten die somatoformen Störungen damals also gerade mal 6,3% aller Renten aus psychischen und Gründen und 2.6% aller Renten aus. Ob das reicht, um die IV zu ruinieren, ist doch eher… zweifelhaft.

Aus der obigen Abbildung ist auch ersichtlich, dass es sich bei der Kategorie 646 in der Tat um eine «Kraut und Rüben»-Kategorie handelt, in der einfach alles (u.a. auch somatische Erkrankungen) abgelegt werden. Aus dem Fazit der Studienautor*innen:

Zum anderen, und dies ist auch politisch von Bedeutung, wurde damit eine unscharf definierte Rentenkategorie erheblich grösser gemacht als sie tatsächlich ist. Ganz grob wäre bei gut 25% der 646-Berenteten eine andere Kategorisierung zumindest denkbar gewesen. Erkrankungen wie beispielsweise eine paranoide Schizophrenie oder Geburtsgebrechen wie Minderintelligenz gehören hingegen sicher nicht in diese Gruppe.

Da gerade der 646-Kategorie die Meinung anhaftet, es handle sich überwiegend um nicht objektivierbare Krankheiten, verstärkt die unscharfe Abgrenzung der Kategorie und die zu häufige Zuteilung die nach wie vor bestehende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen als Befindlichkeiten ohne Krankheitswert. Die hier vorliegenden Resultate zeigen demgegenüber, dass es sich bei der starken Zunahme der 646-Renten um eine Zunahme meist klar beschreibbarer Krankheitsbilder handelt.

Baer N, Frick U, Fasel T. (2009), Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen.


«Die können doch alle arbeiten!»


In der Politik wurden die Resultate der BSV-Studie nur äusserst selektiv wahrgenommen. Offenbar basierend auf obigen Zahlen wurde in der Botschaft zur IV-Revision 6a (2010) festgelegt, dass rund 4’500 gewichtete Renten aufgrund von «somatoformen Schmerzstörungen und ähnlichen Sachverhalten» aufgehoben werden sollten. Weil das wohl etwas schmürzelig aussah, nahm man noch 8000 Versicherte mit «psychischen Störungen» dazu, deren Renten ebenfalls aufgehoben werden sollten, da man bei den Betroffenen «Eingliederungspotential» vermutete. Worauf diese Vermutung basierte, ist unklar, aber sechs Jahre später konnte man im Tages Anzeiger lesen:

Eine grosse Mehrheit der IV-Stellen beklagt in dem vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bestellten Bericht, «dass die sehr aufwendige Umsetzung in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen stehe». «Politik und Verwaltung haben das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wieder­eingliederung enorm überschätzt.»

Und auch die Rentenstreichungen bei den somatoformen Störungen (die rein juristisch – also unabhängig davon, ob eine Eingliederung effektiv möglich war, vorgenommen wurden) liefen nicht ganz wie geplant:

Ziel war, 4500 Vollrenten zu streichen. Nach Abschluss aller Verfahren dürften es aber deutlich weniger als 1000 sein. Hier hat die IV unterschätzt, dass die Betroffenen meist noch Begleiterkrankungen haben, die zur Rente berechtigen.

IV-Bezüger finden kaum mehr Arbeit, Tages Anzeiger 09.02.2016

Beim deutlich überwiegenden Teil der aus psychischen Gründen Berenteten handelte es sich also offenbar um tatsächlich gesundheitlich stark beinträchtigte Menschen.



Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel

Quelle: via @ IVInfo, February 23, 2020 at 02:19PM

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