In der Schweiz existieren vorwiegend zwei Narrative, wenn es um BezügerInnen von Sozialleistungen geht: Zum einen das des «Betrügers»; darunter fällt nach Volksmeinung ungefähr alles vom BMW-fahrenden Sozialhifebezüger über Menschen mit nicht sichtbaren beweisbaren Behinderungen bis zum Studenten aus wohlhabenden Elternhaus, der von Prämienverbilligungen profitiert. Obwohl beispielsweise die Missbrauchsquote bei der Invalidenversicherung deutlich unter einem Prozent liegt, ist die Berichterstattung über «stossenden Fälle» in den Medien vorherrschend. Kein Wunder: So generiert man Klicks – und haufenweise wütende Leserkommentare.
Das zweite Narrativ ist das des armen Schluckers, der von seinem traurigen Schicksal berichten und tapfer in die Kamera (oder das Mikrofon) schluchzen darf, dass er mit den erhaltenen Sozialgeldern wirklich nur ganz ganz bescheiden lebt und jeden Rappen zweimal umdrehen muss. Das generiert dann auch wütende Leserkommentare («Den Aslylanten Flüchtlingen wirft man das Geld hinterher und für die armen Schweizer bleibt nichts!»)
Die Rundschau hat in ihrer letzten Ausgabe gleich beide Narrative auf einmal abgehandelt. Angekündigt wurde ein «Skandal»: 10 Millionäre würden in der Schweiz «Sozialgeld» beziehen. Das «Sozialgeld» (gemeint sind Ergänzungsleistungen), wurde im Tweet eines Rundschau-Reportes mal eben zur «Sozialhilfe»:
Und der Tages Anzeiger schrieb: «Reiche Rentner kassieren ab». Daraufhin tobte das obligate Empörungsstürmlein in den sozialen Medien bereits im Vorfeld der Ausstrahlung.
Zuerst wurde dann in der Sendung eine «gute» weil arme EL-Bezügerin – ohne eigenes Haus oder Million – vorgestellt, bei der das Geld also schon «sehr knapp» sei. Hier ihr Budget:
Die Rundschau-Redaktion verzichtet geflissentlich drauf, das Total nach Erhalt der EL aufzulisten. Vermutlich, weil 3300.-/Monat (Die Renten müssen allerdings im Gegensatz zur EL versteuert werden) nicht nach so wenig aussehen, dass man drüber in seinen Migros-Budget-Kaffee heulen müsste (Was sollen denn erst Sozialhilfebezüger sagen, die mit deutlich weniger Geld auskommen müssen?). Ausserdem habe ich nachgerechnet: Die portraitierte Frau bekommt mit den 3300.- sogar noch 100.- mehr als eigentlich höchstens für EL-Bezüger vorgesehen sind (Gerechnet mit Höchstansatz für Miete, KK-Prämienregion 1 in ZH). Vermutlich sind die zusätzlichen 100.- Gemeinde – oder kantonale Zuschüsse, die es in vielen anderen Gemeinden/Kantonen für EL-Bezüger gar nicht (mehr) gibt.
Ich verstehe wirklich nicht, warum die Medien EL-Beziehende immer als arme Schlucker portraitieren. Es scheint ein unglaubliches Tabu zu sein, dass ein EL-Bezüger, eine EL-Bezügerin einfach sagt: «Mit EL kann man ganz okay leben». Menschen, die vom Staat Geld bekommen, dürfen aber offenbar nicht «okay» leben. Sie müssen möglichst jämmerlich dahindarben (oder es zumindest vorgeben), damit der empörte Bürger nicht vor lauter Empörung nicht mehr schlafen kann (Wann hat das eigentlich angefangen, dass das Gefühlsleben des «empörten Bürgers» das Mass aller Dinge geworden ist?).
Im weiteren Verlauf der Sendung konnte man dann einer Rundschau-Reporterin bei ihrer investigativen Recherche in einem Einfamilienhausquartier zusehen. Sie suchte – vergeblich – nach einem Millionär, der bereit wäre, über seinen Ergänzungsleistungsbezug zu sprechen (Aus welcher Privatfernsehen-Redaktion stammte dieses erbärmliche Script?). Was sie fand, waren die obligaten empörten Bürger, die in die Kamera meckern durften (Mehrwert much?) und eine Frau, die zwar ein Eigenheim bewohnt (das btw. keine Million wert ist), deren Mann aber aufgrund einer Hirnblutung in einem Pflegeheim lebt, dessen Kosten das Ehepaar nicht selbständig berappen kann und deshalb (trotz Eigenheim) Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat (Die für diesen Fall eingeblendete Budget-Berechnung ist allerdings nicht genau nachvollziehbar).
Wer vor der Sendung nicht wusste, wie das EL-System genau funktioniert, weiss es vermutlich auch nach dieser Sendung nicht. Denn auch das von Moderator Sandro Brotz mehr aggressiv als kompetent geführte Gespräch mit Andreas Dummermuth, dem Präsidenten der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen, war eher chaotisch denn erhellend (Der Herr Ausgleichskassenkonferenzpräsident hat ein eigenes Haus? So what? Relevanz?!). Die Idee der Sendung scheint nicht zu sein, die Zuschauer zu informieren, sondern sie möglichst missgünstig zu stimmen.
Das Thema wurde auch mit klarer Absicht gerade zum jetztigen Zeitpunkt dem Fernsehen «zugetragen». Den wirtschaftsnahen Kreisen (SVP, FDP, Arbeitgeberverband ect.) geht die EL-Revision, welche bald im Parlament beraten werden soll, nämlich viel zu wenig weit (Herr Dummermuth hat das auch erwähnt). Empörung über «ungerechtfertigte Bereicherung» soll der ganzen Debatte nun den richtigen Dreh geben. Man kennt das von der gehässigen «Scheininvalidendebatte» – Darauf folgte damals eine beispiellos harsche Sparorgie im Parlament.
Dass EL-Bezüger Vermögen/Wohneigentum haben dürfen, ist nun wirklich nicht «die Neuigkeit» als die sie Rundschau präsentiert. Dummermuth hatte bereits letzten Sommer in der Luzerner Zeitung darauf aufmerksam gemacht, dass es wohlhabende EL-Bezüger gibt. Und man braucht nicht mal investigativ zu recherchieren, um zu wissen, dass es einige EL-BezügerInnen gibt, die über mehr als 80’000.- Vermögen verfügen. Ein Blick in die jährliche EL-Statistik genügt:
(Tabelle vergrössern durch Klicken)
Dass «Millionäre» EL-berechtigt sind, ergibt sich allerdings nur unter einer ganz speziellen Konstellation: Es handelt sich immer um ein Ehepaar, dessen Vermögen (überwiegend) im eigenen Haus angelegt ist, in dem der eine Ehepartner wohnt, während der andere im Pflegeheim ist. Das heisst, wir reden hier effektiv von Personen mit «nur» 500’000.- Vermögen (Da dem pflegebedürftigen Ehepartner jeweils nur die Hälfte gehört).
Was die Rundschau dabei «vergessen» hat zu erwähnen: Nach Abzug der Freibeträge wird bei Heimbewohnern i.d.R. (je nach Kanton) ein Fünftel des Vermögens pro Jahr als «Einkommen» angerechnet. EL-Bezüger müssen also durchaus mit einem Teil ihres Vermögens für die laufenden (Pflege)Kosten aufkommen. Und wenn alles Geld im Haus steckt, muss das Haus irgendwann verkauft werden. Das heisst, EL-beziehende «Millionäre» und Hausbesitzer sind dann sehr bald keine Millionäre/Hausbesitzer mehr. Die Rundschau hat auch nicht erwähnt, wieviel EL diese «Millionäre» überhaupt bekommen (im in der Luzerner Zeitung geschilderten Fall sind es 9000.- pro Jahr. (Empörung schüren, ohne zu erwähnen, um welche Beträge an «Steuergeldern» es effektiv geht? Boulevard-Journalismus à la Rundschau).
Die (je nach Situation unterschiedlich hohen) Vermögensfreibeträge wurden vermutlich auch deshalb grosszügig angesetzt, damit Heimaufenthalte (z.B. auch längere, aber vorübergehende Heim/Reha-Aufenthalte von IV-Bezügern) betroffene Familien nicht sofort finanziell ruinieren. Oder damit Menschen mit Behinderung, die zwar arbeiten, aber Assistenz benötigen (die eben auch teilweise über EL finanziert wird) nicht komplett «arm» sein müssen (Arbeit soll sich ja lohnen) usw. Der Gesetzgeber hat sich schon was dabei gedacht. Aber man kann durchaus darüber diskutieren, ob die EL wirklich dazu dienen sollen, das Erbe für die Nachkommen zu schützen.
Die grossen Kosten werden bei der EL nicht vorwiegend dadurch verursacht, dass sie den Lebensbedarf deckt, wenn die IV/AHV-Rente nicht ausreicht, sondern dass sie – wenn andere Kostenträger nicht genügend greifen – u.a. auch als eine Art Pflegeversicherung fungiert. Zwar leben «nur» 22,4% der EL-BezügerInnen in einem Alters-/Pflege- oder Behindertenheim, die Heimbewohner verursachen aber 60% der gesamten EL-Kosten.
Menschen werden immer älter, Pflege ist teuer. (Laut faktuell.ch kostet ein Heimaufenthalt in der Schweiz im Durchschnitt 8920.-/Monat). Ganz nüchtern über eine obligatorische Pflegeversicherung diskutieren wäre mal eine Idee.
Stattdessen wird das Thema «EL-Revision» überall auf der Empörungsschiene inszeniert. Die NZZ hat beispielsweise vor zwei Jahren viel Aufmerksamkeit erregt mit dem marktschreierischen Artikel «Prämien-Geschenke vom Staat» – den sie dann (Ich weiss gar nicht, wer da interveniert haben könnte… Oh, *ähem*) mehrere Monate(!) später korrigiert hat. Die Korrektur hat dann aber natürlich keiner der Empörten mehr gelesen:
In einer früheren Version dieses Artikels wurde ein Prämienüberschuss von 5000 Franken in einem extremen Einzelfall genannt. Laut der zuständigen Krankenkasse wurde dieser Subventionsüberschuss 2014 tatsächlich an einen EL-Bezüger ausbezahlt. Aufgrund kritischer Reaktionen auf den NZZ-Artikel hat die Kasse den Fall nun noch einmal eingehend überprüft. Diese Überprüfung hat laut der Kasse ergeben, dass der zuständige Kanton ihr eine deutlich zu hohe Durchschnittsprämie gemeldet hatte. Deshalb zahlte die Kasse einen zu hohen Prämienüberschuss an den betroffenen EL-Bezüger aus. Auch ohne diesen Fehler hätte die Person laut Angaben der Kasse immer noch Anrecht auf einen Subventionsüberschuss in vierstelliger Höhe gehabt.
In sehr tiefer vierstelliger Höhe, NZZ. Und das ist nicht die Regel. Aber egal, wenn erst einmal laut «Ungerechtfertigte Bereicherung!» gebrüllt wurde, reicht natürlich sofort ein besorgter Bürger bürgerlicher Parlamentarier eine entsprechende Motion ein, die fordert: «Keine Prämiengeschenke vom Staat für Bezügerinnen und Bezüger von Ergänzungsleistungen». Der Bundesrat warnt zwar davor, EL-Bezüger zu verpflichten, sich bei den allerbilligsten Krankenkassen zu versichern (u.a. führt Konzentration der «schlechten Risiken» bei diesen Kassen zum Prämienanstieg), aber egal, Empörung über alles! Hauptsache, kein EL-Bezüger bekommt auch nur einen Franken «zuviel». Einen kleinen «Optimierungsspielraum» bei der Wahl der KK hatten EL-Bezüger zwar schon seit Jahren, nur hat eine – bevormundende – Systemänderung (Die EL zahlt die Prämie heute nannymässig direkt an die KK) das erst ins Bewusstsein empörungsbereiter Politiker gebracht. Dieselbe Systemänderung hat übrigens auch bewirkt, dass EL-Bezüger heute mehr Steuern zahlen müssen als vorher. Aber weniger Geld für die Betroffenen? Wen interessiert das schon. Die bekommen ganz sicher immer noch viel zu viel.
Wie schon erwähnt, wurde auch im Vorfeld der letzten IV-Revisionen mit der ganz grossen Empörungskelle angerührt. Die Mehrheit des Parlaments befand beispielsweise vor einigen Jahren, dass tausende IV-Bezüger «ja eigentlich Simulanten nicht wirklich krank seien und wieder arbeiten könnten». Das in Bern angerichtete Empörungssoufflé hat den Praxistest dann leider nicht bestanden. (Siehe: Integration aus Rente – Die ganz ganz grosse Lüge)
Es wäre deshalb wünschenswert, wenn die Diskussionen um Sozialleistungen in den Medien und im Parlament mal wieder mit etwas mehr Hintergrundinformationen, Sachverstand und Nüchternheit geführt würden. Und die ParlamentarierInnen die Gesetzgebung dann mit Verantwortungsgefühl und Sensibilität für die sehr unterschiedlichen und oft nicht einfachen Lebenssituationen, in denen sich die Betroffenen (in diesem Fall die ErgänzungsleistungsbezügerInnen) befinden, an die Hand nähmen – Statt sich wie eine amoklaufende Horde paranoider Wutbürger («Missbrauch! Ungerechtfertigte Bereicherung! Alles Betrüger!») aufzuführen.
Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel
Quelle: via @ IVInfo, May 29, 2017 at 01:04PM
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