Dienstag, 19. Februar 2019

Debatte um Hartz-IV-Sanktionen

Eure Armut interessiert uns nicht
Die anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der Niedergang der SPD haben die Debatte über Sanktionen gegen „Hartz-IV-Empfänger“ neu entfacht. Wortreich beschweigen die Sanktionsbefürworter, worum es ihnen geht – den Fortbestand des deutschen Niedriglohnmodells – und worum es gehen sollte: Darf der Staat das Existenzminimum kürzen?
Eine erstaunliche Aussage eines Sozialdemokraten war dieser Tage in der taz zu lesen:
Arbeitslosigkeit ist kein individuelles Versagen, sondern ein gesellschaftliches und oft strukturelles Problem, das nicht nur mit „Fördern und Fordern“ beantwortet werden kann. […] In Münster gibt es vier Prozent Arbeitslose, in Gelsenkirchen über elf. Das liegt nicht daran, dass die Leute in Gelsenkirchen nicht arbeiten wollen.
Was der Landesvorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen, Sebastian Hartmann, da sagte, war früher Allgemeingut. Die Älteren werden sich erinnern. Nun wird auch heutzutage niemand behaupten, in Gelsenkirchen gebe es mehr arbeitsscheue Menschen als in Münster. Die Vorstellung, Arbeitslosigkeit sei grundsätzlich individuell verschuldet, ist jedoch seit der Einführung von Hartz IV vor 14 Jahren die Basis der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Vielen hat die begleitende Propaganda mittlerweile derart die Synapsen verklebt, dass sie die alternativen Fakten mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand verwechseln.

„Jobcenter, Abteilung Hartz IV“, durch die rosarote Brille betrachtet

Eine von ihnen ist Katja Grieser, Lokalredakteurin die Ostthüringer Zeitung, die kürzlich einen Kommentar mit dem Titel „Katja Grieser kann die Debatte über die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen nicht verstehen“ veröffentlichte. Zum Einstieg schreibt sie:
Das Sozialgericht Gotha hält die Hartz-IV-Sanktionen für verfassungswidrig; die Bundesverfassungsrichter müssen nun entscheiden, ob das so ist.
Über die Argumente des Sozialgerichts Gotha verliert die Kommentatorin kein Wort. Stattdessen kommt sie „mit gesundem Menschenverstand“ zu dem Schluss, dass die Situation für deutsche Arbeitslose im internationalen Vergleich „beinahe luxuriös“ sei. Denn großzügigerweise bekämen Arbeitslose nach Auslaufen des Arbeitslosengelds I „trotzdem etwas: Hartz IV.“ Dass der Staat im Gegenzug „vom so genannten Leistungsempfänger“ etwas verlangen könne, erscheint Grieser selbstverständlich, denn:
An Regeln muss man sich nun mal halten. Das ist im Berufsleben so und gilt erst recht, wenn man auf Hilfe vom Staat angewiesen ist.
Nun könnte man fragen: Wen interessiert schon die Meinung einer Lokalredakteurin aus Gera? Könnte man, wenn ihr Kommentar nicht symptomatisch wäre für die Art und Weise, mit der sich Journalisten in diesem Land mit dem Thema Hartz-IV-Sanktionen auseinandersetzen. Wer erwartet hatte, die anstehende Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts würde den einen oder anderen Regierungspolitiker oder die sogenannten Leitmedien veranlassen, einmal ganz tief in sich zu gehen, sieht sich getäuscht. Die wenigen Gegenstimmen stammen in der Regel von Journalisten, die das Hartz-IV-System schon immer abgelehnt haben, wie Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, der die dahinter stehende Grundhaltung perfekt auf den Punkt bringt:
Die schwarze Pädagogik, die in der Kindererziehung verpönt ist, hat Hartz IV bei erwachsenen Menschen wieder eingeführt.
Der Grundtenor in den Medien spiegelt indes genau jene Haltung wider: Sanktionen müssen sein, denn sonst würden die Arbeitslosen nicht spuren, die Steuerzahler aufmucken und die Niedriglöhner demotiviert. Besonders hübsch verpackt streute kürzlich das heute-journal diese Botschaft unters Volk. Anmoderation von Claus Kleber:
Hartz IV ist zum Inbegriff eines kaltherzigen, die Armen ignorierenden Staates geworden. Oliver Heuchert hat einen Tag dort verbracht, wohin wohl niemand gerne geht: im Jobcenter, Abteilung Hartz IV. Er fand die Eindrücke und Atmosphäre dort [kurze Sprachpause] überraschend.
Und tatsächlich fand der Reporter im Jobcenter Aachen, wie durch ein Wunder, ausschließlich zufriedene „Kunden“ und engagierte Mitarbeiter. Selbstredend sprechen die „Fallmanager“ dort nur Sanktionen aus, wenn es gar nicht anders geht. Und überhaupt, es werden ja nur rund drei Prozent der Hartz-IV-Empfänger sanktioniert. Heucherts Fazit:
Die Mitarbeiter des Jobcenters helfen denen, denen sonst niemand hilft, nicht nur in Sachen Arbeitsplatz, sondern umfassend. Die Mitarbeiter sind durchaus stolz auf das, was sie hier für ihre Kunden zuwege bringen.
Dem Geschäftsführer des Jobcenters Aachen, Stefan Graaf, blieb es überlassen, gegen Ende des Beitrags die altbekannte Botschaft zu verkünden: Die Abschaffung von Sanktionen „würde das System wirklich nur schwer verkraften“ und die Steuerzahler, die für die Gewährung von Leistungen „in einer Notsituation“ aufkämen, im Übrigen auch nicht.

Sippenhaft für die Familien von ALG-II-Beziehern als Beitrag zum Kampf gegen Kinderarmut

Die Gretchenfrage, ob es rechtlich und moralisch zu rechtfertigen ist, ALG-II-Empfängern das Existenzminimum vorzuenthalten und ihre Familienmitglieder in Sippenhaftung zu nehmen, wird in den Medienbeiträgen zu diesem Thema meist erst gar nicht gestellt. Von dem zweiten Einwand des Sozialgerichts Gotha, Sanktionen seien ein Verstoß gegen die Berufsfreiheit, ganz zu schweigen. Eine echte Debatte findet nicht statt, weil die Sanktionsbefürworter ihre Position meist nur tautologisch begründen. So wie Elisabeth Niejahr, Chefreporterin der „Wirtschaftswoche“, die bei Maischberger verkündete:
Es gibt kein Recht auf dauerhafte Sozialleistungen ohne eigene Anstrengungen.
Als Drohung mochte Niejahr Sanktionen aber nicht bezeichnen, das sei ein zu „martialisches“ Wort. Sanktionen, die auch Kinder betreffen, möchte sie als Beitrag zur Bekämpfung von Kinderarmut verstanden wissen. Da „vererbte Armut ein Riesenproblem“ sei, müsse man sich „eigentlich umso mehr Mühe geben, dass das Geld bei denen ankommt, die es dringend brauchen. Da muss man zum Beispiel in Betreuung und Schulen und so weiter investieren und vielleicht nicht in diejenigen, die den Sozialstaat eher ausnutzen.“ Im Klartext: Die gut situierte Journalistin vom Prenzlauer Berg findet es nicht weiter tragisch, wenn die sanktionierte kleine Chantal in Hellersdorf hungrig zur Schule geht, Hauptsache es gibt dort ein paar neue Computer. Bekommt die Kleine doch sicher zu Hause eh keine ausgewogene Ernährung, da ihre Hartz-IV-Eltern die Stütze gewohnheitsmäßig für Alkohol und Zigaretten verplempern.

Wissen ist Macht, nichts wissen macht auch nichts – für die Mächtigen

An solchen Aussagen nimmt die breite Öffentlichkeit schon lange keinen Anstoß mehr, vor allem, wenn sie so wohl formuliert und scheinbar mitfühlend daherkommen. Daher erntete auch nicht Niejahr, sondern nur FDP-Chef Christian Lindner im Nachgang der Sendung ein wenig Kritik in den sozialen Netzwerken für seine wahrheitswidrige Behauptung: „Auf Null darf gar nicht gekürzt werden.“ Die Stern-TV-Sendung vom 12. Dezember muss Lindner wohl verpasst haben. Darin sagte Heinrich Alt (SPD), Ex-Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, an einem anwesenden, total sanktionierten und nunmehr obdachlosen Arbeitslosen vorbei:
Er ist nicht obdachlos. Er ist in einem Obdachlosenheim untergebracht. Er ist nicht obdachlos. Er kriegt Lebensmittelgutscheine vom Jobcenter. Es gibt auch in Dresden eine Tafel …
Der Shitstorm für diese unsäglich dumme Aussage blieb aus. Hätte Alt hingegen behauptet, Schwule seien nicht wirklich schwul oder Lesben sollten es doch einfach mal mit einem Mann probieren … Doch das ist ja das Schöne an diesem „wahnsinnig emotionalen“ (Elisabeth Niejahr) Thema: Man muss keine Ahnung von der Materie haben, um mitreden und straflos Blödsinn verzapfen zu dürfen. Geht es doch nur um das Schicksal von Almosenempfängern am unteren Rand der Gesellschaft, die sich gefälligst dankbar zeigen und ansonsten die Klappe halten sollen.
Wen interessiert es da schon, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 9. Februar 2010 zu dem Schluss kam, die staatliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sei „dem Grunde nach unverfügbar“. Und wen kümmert es, dass die Bundesregierung dieser grundgesetzlichen Verpflichtung ohnehin nicht nachkommt, da sie den ALG-II-Regelsatz schon seit Jahren willkürlich kleinrechnen lässt und das auch noch ganz offen zugibt. Seit Ex-Kanzler Schröder – „Es gibt kein Recht auf Faulheit in dieser Gesellschaft“ – und seine Minister Clement – „Schmarotzer“, „Parasiten“, „Abzocker“ – und Müntefering – „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ – mit tatkräftiger Unterstützung der Medien die Abwertung von Arbeitslosen salonfähig gemacht haben, müsste man schon das Lebensrecht von Arbeitslosen generell in Frage stellen, um noch einen veritablen Skandal auszulösen.


Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Heise.de, Hans-Dieter Rieveler, 18.02.2019

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