Donnerstag, 10. September 2015

Migration passiert. Wir gestalten!

Ob Flüchtling oder Expat, ob Erasmus-Studentin, Eingeborener in 2. oder in 456. Generation, (wir) alle teilen eine gemeinsame Erfahrung: Migration. Kaum eine, die nicht jemanden kennt, der im Ausland arbeitet, selbst eine Migrationsgeschichte hat oder mit Migrant*innen befreundet oder verwandt ist. Über „150 Millionen Menschen weltweit leben als Migrant*innen in einem Staat, der nicht ihre ursprüngliche Heimat ist.“ (bpb) Migration ist ein alltägliches, allgegenwärtiges Phänomen – es gehört zu unserem Leben und unserer Welt wie die Luft und das Wasser. Migration ist per se nichts Besonderes und schon gar nicht etwas Bedrohliches.

In der Natur der Sache liegt aber auch, dass sich die Geschichten rund um Migration wie ein dunkler Schatten über unser Haupt legen können: Mittels paranoider Demagogie, entsprechend dilettantischer Politik und brach liegender Begabung zur Selbst-Reflexion. Negative Berichterstattung in Wiederholungsschleife, Vorurteile und uralte Mythen dringen in uns ein und führen zu eklatanten Wahrnehmungsstörungen über einen stinknormalen Vorgang unserer Gesellschaft. So werden Migrant*innen oft zur Projektionsfläche von un/berechtigten Sorgen, phantasierten Ängsten und pathologischem Hass.
Von der Migrantin zur Gründerin von migrationlab
Laura M. Pana kennt die Ausprägungen dessen nur zu gut. In Rumänien geboren, zog sie aus Liebe zu ihrem Freund mit 26 Jahren nach Wien. Als sie diesen Schritt wagte, fühlte sie Vieles: Freudige Erwartung, Aufregung, auch Wehmut und Unsicherheit – das Gefühl „Migrantin“ zu sein, war jedoch keines davon. „Ich sah mich selbst nicht als Migrantin, das war keine emotionale Kategorie. Nachdem ich aber in Wien angekommen war und mit vielen der Herausforderungen konfrontiert wurde, die einer Ost-Europäerin im Westen entgegen knallen, spürte ich es plötzlich. Die Frustration über die Vorurteile, über das Labelling meiner Person, den psychologischen Druck: All das begründete erst meine Identität als ‚Migrantin‘“. Die Schwierigkeiten denen sich ein Mensch aus einem Nicht-EU-Land/Neuen EU-Staat↓ bei der Einbürgerung gegenüber sieht, sind mannigfaltig und hart zu nehmen. Bürokratie wohin das Auge reicht. Ohne Anmeldebescheinigung, keine Arbeit, keine Arbeit, ohne Beschäftigungsbewilligung, keine Beschäftigungsbewilligung, ohne Arbeitgeber*in, die sich überhaupt dazu bereit erklärt – und ohne all das, kein Einkommen, keine Wohnung, keine Sozialversicherung und keine Existenzsicherheit. Bis dahin ist es ein langer und mühsamer Weg, den Pana aufgrund der wertvollen Unterstützung ihres einheimischen Partners und Umfelds gut bewältigen konnte. Diese Rückendeckung wird jedoch nicht allen Migrant*innen zuteil. Trotz allem war auch Pana Abwertungen aufgrund ihrer Herkunft ausgesetzt, Unternehmen wollten keine neuen EU-Bürger*innen aufgrund der bürokratischen Hürden und auch Vermieter*innen waren immer wieder skeptisch. 
„Nach eineinhalb Jahren fand ich dann endlich einen Job im Kommunikationsbereich. Ich weigerte mich zuvor undokumentiert zu arbeiten, auch um das Stereotyp nicht zu bedienen. Bis dahin suchte ich intensiv nach einer Stelle, besuchte Deutsch-Kurse und versuchte möglichst geduldig zu bleiben.“
Mit 33 Jahren zog Laura Pana gemeinsam mit ihrem österreichischen Parnter von Wien in die Niederlande nach Den Haag, aus Berufsgründen. Mittlerweile aber hatte sich die Bedeutung des Wortes „Migrantin“ für sie gewandelt: „Heute fühle ich mich wohl mit dem Terminus, ich beschreibe mich selbst als Migrantin und bin glücklich darüber. Denn die Migrationsgeschichte ist eine Geschichte persönlicher und kollektiver Entfaltung, die sowohl Migrant*innen selbst, als auch die Einheimischen bereichert“. Um diese positive Perspektive auf Migration auch für andere sichtbar werden zu lassen, gründete sie migrationlab: Ein Projekt das aufzeigt, wie Migration zur individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklung beiträgt. „Toleranz, Weltoffenheit und Aufgeschlossenheit sind Eigenschaften, die durch Migrationsbewegungen beeinflusst und gestärkt werden können. Deswegen sehe ich diesen demographischen Faktor als einen Grund zum Feiern, nicht als Ursache für Angst, Hetze oder gar Spaltung. Dazu braucht es aber vor allem eine Beziehung zu den realen Personen, die migrieren.“ Diese Verbindungen herzustellen, ist das deklarierte Ziel von migrationlab. Um hinter die medial inszenierten Kulissen von „dem Flüchtling“, „der Migrantin“ und „dem Sohn einer türkischen Gastarbeiter-Familie“ zu blicken, bedürfe es mehr als nur das theoretische Wissen darüber. Denn jede dieser Personen habe seine einzigartige und spannende Geschichte, die – wenn man sich darauf einlässt – letztendlich offenbart, dass wir uns gar nicht so sehr voneinander unterscheiden.
Im „Öffentlichen Wohnzimmer“ Vorurteile abbauen
Wie schafft es Laura Pana, die Leute zusammen zu bringen? „Die Idee hat kulturelle, soziale und pädagogische Aspekte. ‚Welcome to the Living Room‘, also ‚Willkommen im Wohnzimmer‘, ist eine der Initiativen von migrationlab. In verschiedenen europäischen Städten erschafft migrationlab einen Raum, der einem öffentlichen Wohnzimmer gleicht.” Demnächst gestaltet sie diesen Raum auch in Wien im Rahmen der Vienna Design Week, wo sie von 25. September bis 4. Oktober in Kooperation mit Dominik Nostitz/Verein08 und Alice Stori Liechtenstein/storialab wieder ins Wohnzimmer einlädt. „Dort treffen sich alle, die teilnehmen wollen: Migrant*innen, Einheimische, Flüchtlinge und andere, die ihre Lebens- bzw. Migrationsgeschichten präsentieren möchten. Sie können einfach über sich erzählen, oder aber jegliche künstlerische Ausdrucksweise nützen: Filme, Fotos, Gedichte … alle Formen sind willkommen. Das Wohnzimmer bringt also Menschen unterschiedlicher Gemeinschaften zusammen und gibt ihnen die Möglichkeit, sich gegenseitig zu entdecken. Sich auf Augenhöhe, in einem gemütlichen Rahmen, kennen zu lernen. Der Social Design-Aspekt wird bei der Vienna Design Week darin bestehen, dass auch konkret Gedanken, Eindrücke, Perspektiven und Lösungen darüber ausgetauscht werden, wie Migration und Integration zur Stadtentwicklung beitragen und wie wir unsere Erfahrungen nützen können, um soziale Beziehungen in unserer Gesellschaft zu verbessern.“
Das Individuum würde somit vor die Nationalität treten, die mit allzu vielen fehlgeleiteten Zuschreibungen belastet sei – eine Türkin ist nicht „eine Türkin“. Hingegen verberge sich dahinter ein Mensch mit Wünschen, Bedürfnissen und Sehnsüchten, die sich von jenen eines Österreichers in vielen Fällen nicht besonders unterscheiden würden. Letztendlich lernen wir, so Laura, in jeder Beziehung zu anderen auch, dass wir neben den individuellen Unterschiedlichkeiten vor allem sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Diese Beziehungen im geschützten Rahmen aufzubauen, ermöglichen die verschiedenen Projekte von migrationlab.

„Gerade wenn wir beobachten, was aktuell in Europa passiert, bin ich umso mehr der Meinung, dass sich kennen und schätzen zu lernen der beste Weg ist, um mit den Herausforderungen einer wachsenden Gesellschaft umzugehen. migrationlab versteht sich als soziales Projekt, das darauf abziehlt die Wahrnehmung von Migrant*innen auf echte Beine zu stellen, um nicht weiterhin auf der Oberfläche der Vorurteile zu bleiben. Besonders im Falle von Menschen die aus Backgrounds kommen, die uns fremd erscheinen, müssen wir in den Dialog treten. Es war lange nicht mehr so wichtig wie heute, ‚die Anderen‘ zu verstehen, sich aufeinander einzulassen und sich gegenseitig mit offenem Herzen zu begegnen. Um in Frieden miteinander leben zu können.“ Schließlich sei Migration eine gesellschaftliche Realität, die sich nicht ändern ließe. Egal wie sehr die „Festung Europa“ aufrüste, egal wie hoch die Zäune gebaut würden: Migration passiert trotzdem. „Bei migrationlab erkennen wir jedes Mal, dass wir uns in sehr vielen Dingen näher sind, als viele glauben. Dass wir im Grunde der selben großen Familie angehören und die ganze Welt unser zu Hause sein kann. Die Gespräche im Wohnzimmer verändern unsere Mentalität, dort üben wir uns im Mitgefühl und entdecken unsere Verbindung zu ‚den Anderen‘“, so Pana.

Políticas unterstützt dieses Projekt insbesondere vor dem Hintergrund der angeblichen „Flüchtlingskrise“. Damit Solidarität keine Notfallaktion bleibt, sondern zum Selbstverständnis wird. Laura M. Pana trägt auf ihre außergewöhnliche Art erfolgreich dazu bei, langfristige Beziehungen zueinander aufzubauen und die Menschen hinter den „Migrant*innen“ wahrzunehmen. Wir sagen Danke!
von Elisa Ludwig


(*) Weitere Infos zum Projekt und Laura M. Pana: www.migrationlab.org
(*) Möglichkeiten, um sich an migrationlab zu beteiligen: www.migrationlab.org/getinvolved

Die Vienna Design Week (VDW) findet zwischen 25. September und 4. Oktober in der Ankerbrotfabrik statt. Hier gibt’s das volle Programm von migrationlab und dem verein08 für zehn Tage und hier das Programm der VDW.

Rumänien ist seit 2007 Mitglied der Europäischen Union. Bis 2014 galt es aber noch als “Neuer EU-Staat”, weshalb Migrant*innen aus Rumänien bis dahin noch arbeistmarktrechlichen Beschränkungen unterlagen.

Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Politicas.at, September 10, 2015 at 02:26PM

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