Montag, 21. August 2017

[2/7] Bullshitter-in-Chief

Am 25. Oktober 2004 referierte der damalige Bundesrat Christoph Blocher vor der «Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft» über «Die Hauptprobleme der Schweiz und ihre Lösungen».  Zur Invalidenversicherung meinte er:

Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder dienen als kaum überprüfbarer Einstieg zur Invalidität. Ich will Ihnen nur ein paar Beispiele nennen: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Tinnitus (Pfeifen im Ohr) oder Vitaminmangel. Bei dieser Fülle ist jeder Bürger ein potenzieller Neurentner. Sicher kann sich jeder von Ihnen auf eines dieser Symptome berufen. (…) Ebenfalls sehr hoch sind die Anteile jener IV-Bezüger, die über Kopf- und Rückenschmerzen oder ein Schleudertrauma klagen.

Urs Paul Engeler bilanzierte in der Weltwoche (Ausgabe 49/2004) kurz darauf unter dem Titel «Und er bewegt uns doch» über das erste Jahr von Christoph Blocher als Bundesrat:

Im Verlaufe des Jahres ist die politische Rede freier geworden. Der von Blocher in die Umlaufbahn gebrachte Begriff «Scheininvalide» wurde Ende 2003 noch als «Unwort des Jahres» verdammt; in der zweiten Hälfte 2004 darf ganz offen über die Missbräuche gesprochen werden. Blocher selbst mokierte sich in seiner Zürcher Rede in aller Öffentlichkeit über die vielen neu-erfundenen Krankheiten, die heute eine IV-Rente auslösen: «Soziale Phobie, Internet-Sucht, Menopause, Schlafstörungen, Verstopfungen, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Vitaminmangel.» Der Aufschrei blieb diesmal aus. (…) Heute kann rational diskutiert werden. Einige Denk- und Sprechverbote sind gefallen.

Am 01.04.2005 verwendete Blocher den Textbaustein über die «Vielzahl neuer Krankheitsbilder» in einer Rede vor der Handelskammer Thurgau erneut.

16.04.2005 – Aus der SVP-Medienmitteilung «Goldvermögen nicht für IV verscherbeln!»

Jedes Jahr gibt die Invalidenversicherung IV rund 1,5 Mrd. Franken mehr aus, als sie zur Verfügung hat. Das ist alleine auf Missbrauch und eine lasche Praxis bei der Rentengewährung zurück zu führen. (…)
Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder wie etwa soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression, Tinnitus (Pfeifen im Ohr) oder Vitaminmangel dienen als kaum überprüfbare Gründe für den Einstieg in die so genannte Invalidität.

13.01.2006 – Der Thurgauer SVP-Kantonsrat Urs Martin empfiehlt in der Schweizerzeit: «Gönnen Sie sich Ihre IV-Rente»

Beziehen Sie eine IV-Rente? Nein? Dann wird es höchste Zeit, dass Sie sich ernsthaft überlegen, eine solche anzustreben. Man gönnt sich ja sonst nichts. Noch nie waren die Chancen auf eine IV-Rente so gut. (…) Eine Vielzahl neuer Krankheitsbilder wie etwa soziale Phobie, Internet-Sucht, Schleudertraumata, erhöhter Cholesterinspiegel (…) dienen als kaum überprüfbare Gründe und damit als Eintrittsticket in die monatliche staatliche Unterstützung bis zur Pension. Spätestens nachdem Sie obige Krankheitsbilder durchgegangen sind, werden Sie, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, feststellen, dass Sie sogar zu einer multiplen IV-Rente berechtigt sind. (…) Das IV-Rentner-Dasein ist doch viel angenehmer als dasjenige des „dummen“ Steuerzahlers, welche für die Renten aufkommen muss. Lassen Sie sich’s daher gut gehen und gönnen Sie sich Ihre IV!

03.03.2006 – Der heutige SVP-Bundesrat Guy Parmelin triumphiert: Die 5. IV-Revision ist massgeblich von der SVP geprägt worden

Unsere Partei ist in den letzten Jahren nie müde geworden, in zahlreichen Vorstössen die verschiedenen Ungereimtheiten und Missbräuche bei der IV anzuprangern. Die SVP nimmt mit Befriedigung zu Kenntnis, dass ihren Vorschlägen oft Rechnung getragen worden ist (…)

Weil man grad so gut im Schuss ist, zwischendrin noch bisschen «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen Auto- oder Motorradfahren»:
23.03.2007 – Motion von SVP-Nationalrat Alexander Baumann: Personen mit psychischen Defekten dürfen keine Motorfahrzeuge lenken:

Der Bundesrat wird aufgefordert, folgende Massnahme in die Wege zu leiten: Personen, die aus psychischen Gründen von bürgerlichen Pflichten (Militärdienst, Zivilschutz, Feuerwehr) dispensiert werden müssen, sowie Personen im Erwerbsalter, die aus psychischen Gründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden oder sich darin nicht integrieren lassen, müssen vom Führen eines Motorfahrzeuges ausgeschlossen werden.

April 2007Arbeitspapier der Schweizerischen Volkspartei im Hinblick auf die Eidgenössischen Wahlen 2007 (Untertitel: Dokumentation über die katastrophalen Auswirkungen der linken Politik der Neunzigerjahre), unter: «Zahlen, Daten, Fakten»:

Einstiegsgründe für IV-Renten: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause (…)

Wie sich das für «Fakten» gehört, wird auf die Quelle verwiesen: «Referat von Bundesrat Christoph Blocher vor der ‚Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft‘ in Zürich, 25. Oktober 2004.»

05.10.2007 – Aus der Motion «Haftung der Ärzte bei Beihilfe zur Scheininvalidität» der SVP-Nationalrätin Jasmin Hutter:

Ärzte definieren den Krankheitsbegriff zusammen mit den Versicherten täglich neu – mit dem Resultat, dass die Invalidenversicherung (und auch die zweite Säule und Ergänzungsleistungen) Milliardensummen für Fälle ausgibt, denen kein wirklich invaliditätsrelevanter Gesundheitsschaden zugrunde liegt. Heutige IV-Gründe sind etwa: soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel (…) Seit 1990 sind gewisse IV-Gründe besonders stark angestiegen – insbesondere die Schleudertraumata* und psychische Fälle.

Dr. med. Jacques de Haller, Präsident der FMH stellte erst zwei (!) Jahre (!) nach Einreichung der Motion Hutter in der schweizerischen Ärztezeitung verwundert fest:

Heute gehört es fast schon zum guten Ton, Invalide als Profiteure zu beschuldigen. Und nun befinden wir Ärztinnen und Ärzte uns plötzlich im gleichen Boot.

Oder anders gesagt: «Huch?!»

2009 – Aus dem «Argumentarium zur konjunkturpolitisch schädlichen Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 8% zugunsten der IV»

Ein wesentlicher Grund für den Rentenanstieg in den letzten 15 Jahre ist die zunehmende Medizinalisierungstendenz. Heute rentenbegründende Krankheitsbilder sind: Soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Menopause, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom, Schlafstörungen, Verstopfungen, Burnout-Syndrom, Hyperaktivität, starkes Schwitzen, Entwurzelungssyndrom, psychosoziale Depression oder Vitaminmangel. Bei dieser Fülle von Krankheitsbildern ist jeder Bürger ein potenzieller Neurentner.

Und… wirkt die Indoktrination? Sind Sie nun auch überzeugt, dass «Internet-Sucht» oder «Verstopfung» rentenbegründende Krankheitsbilder waren, bevor die SVP heroisch dagegen ankämpfte und die IV von all diesen Schmarotzern befreit hat?
Wenn Herr Blocher («Quelle: Blocher») das gesagt hat und seine Gläubigen ihm das jahrelang unermüdlich nachbeteten, muss es doch stimmen?

Die Chancen stehen gut, dass der damalige Redenschreiber von Herr Blocher immer noch gelegentlich von unkontrollierbaren Lachkrämpfen geschüttelt wird, wenn er in glückseeliger Erinnerung daran zurück denkt, wie er mit einer kompletten Bullshit-Behauptung einen entscheidenden Grundstein dafür legte, der Bevölkerung ein nachhaltig verzerrtes Bild von IV-Bezügern zu vermitteln:

Und dann… haha, habe ich… hihi… die Kritik von diesem deutschen Spiegeljournalisten an der Pharmainindustrie… harhar… einfach übernommen und… chrchrchr… so umformuliert, als ob das höhö…effektive IV-Gründe wären.

Krankheitserfinder verdienen ihr Geld an gesunden Menschen, denen sie einreden, sie wären krank. Ob soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, larvierte Depression, Übergewicht, Menopause, Prä-Hypertonie, Weichteilrheumatismus, Reizdarmsyndrom oder erektile Dysfunktion – medizinische Fachgesellschaften, Patientenverbände und Pharma-Firmen machen in nicht enden wollenden Medienkampagnen die Öffentlichkeit auf Störungen aufmerksam, die angeblich gravierend sind und viel zu selten behandelt werden.

Jörg Blech: Die Abschaffung der Gesundheit, Spiegel vom 11.08.2003

Ich war ja versucht, auch die «erektile Dysfunktion» drin zu lassen, aber Christoph meinte, in Kombination mit dem darauf folgenden Satz «Sicher kann sich jeder von Ihnen auf eines dieser Symptome berufen» wäre das nicht so gut rübergekommen. Wir von der SVP sind ja schliesslich eine in jeder Beziehung stramme Männer-Truppe… höhö…Vitaminmagel und Verstopfung habe ich hinzugefügt, um zu schauen, welchen Unsinn die Leute glauben. Die Anekdote mit den Sisi-Syndrom aus dem Spiegelartikel war ausserdem perfekt, um zu implizieren, dass psychische Krankheiten sowieso nur eingebildet und erfunden sind.

Blochers Rede (2004):

Ein Chemieunternehmen hat sich ein nach der Kaiserin Sissi benanntes Syndrom ausgedacht: Die betroffenen Patienten leiden nach Darstellung des Konzerns an einer starken Depression, überspielen ihre Krankheit aber durch ein besonders aktives, lebensbejahendes Verhalten. In Deutschland wird die Zahl der am „Sisi-Syndrom“ leidenden Menschen auf drei Millionen geschätzt. Drei Millionen krankhaft fröhliche Menschen, die sofort und teuer therapiert werden müssen.

Jörg Blech im Spiegel (2003):

Die betroffenen Patienten sind dem Konzern zufolge depressiv und gegebenenfalls mit Psychopharmaka zu behandeln. Allerdings überspielten sie ihre krankhafte Niedergeschlagenheit, indem sie sich als besonders aktiv und lebensbejahend gäben. Das Syndrom werde nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth („Sisi“) benannt, da sie den Patiententypus wie ein Urbild verkörpere. Seither hat das Schlagwort die Medien erobert und wird von Psychiatern propagiert: Inzwischen wird die Zahl der am Sisi-Syndrom erkrankten Deutschen bereits auf drei Millionen geschätzt.

Wissen Sie, chrchr… wir hatten überhaupt keine Ahnung, was die IV-BezügerInnen effektiv für Krankheiten haben. Die IV-Statistik ist auch heute noch – und speziell bei psychischen Erkrankungen – sehr ungenau. Man wusste zu keinem Zeitpunkt, wieviele Versicherte aufgrund eines Schleudertraumas eine IV-Rente beziehen*. Und ehrlich gesagt; das hat uns auch nie im Geringsten interessiert. Je weniger nachprüfbare Fakten, umso besser. Es ging in erster Linie darum, die SVP in Wahlen und Abstimmungen als Partei zu positionieren, die – als einzige – dafür sorgt, dass der Wutbürger anständige Bürger nicht für Schmarotzer bezahlen muss. Partei-Marketing, wenn Sie verstehen, haha. Dass auch der effektive Missbrauch tatsächlich sehr gering ist (Die IV-Missbrauchsquote liegt unter 1%), war dabei komplett egal. Wichtig ist nicht die Wahrheit, wichtig ist nur, was die Leute für die Wahrheit halten.

Und diese «Wahrheit» nachhaltig zu definieren, das müssen Sie zugeben, ist uns doch sehr gut gelungen. Harhar.

. . . . .

* 

Wie viele Schleudertrauma-Patienten, die eine IV-Rente beziehen, gibt es in der Schweiz?

Dazu gibt es keine statistischen Angaben. Und zwar deshalb, weil wir bei der IV die Fälle nicht mit einem Code «Schleudertrauma» versehen. Schleudertraumata figurieren unter verschiedenen ärztlichen Diagnosen. Wir können daher auch nicht sagen, wie viel uns die IV-Renten für Schleudertrauma-Patienten pro Jahr kosten. Und wir können ebenso wenig angeben, wie sich die Zahl der Schleudertrauma-Fälle über die Jahre entwickelt hat.

Jean-Philippe Ruegger, damaliger Präsident der IV-Stellen-Konferenz am 15.9.2010 im Tages Anzeiger

Durch die jahrelange Propaganda der SVP weichgeklopft, beschloss das Parlament im Rahmen der IV-Revision 6a dennoch, dass die Invalidenversicherung zwischen 2012 und 2016
die Renten von rund 17’000 IV-Bezügern aufheben oder reduzieren soll. Ziel war es, insgesamt 12’5000 Vollrenten einzusparen. Die IV-Stellen mussten alle Dossiers daraufhin überprüfen, ob eine Schmerzstörung oder ein «ähnliches» Leiden vorliegt. Die Praxis zeigte jedoch, dass das Eingliederungspotential massiv überschätzt worden war: Der Grossteil der überprüften IV-Bezüger stelle sich als – wer hätte das gedacht – tatsächlich stark eingeschränkt heraus. Häufig bestehen neben der Schmerzstörung noch zusätzliche Begleiterkrankungen. Die IV-Stellen beklagten, «dass die sehr aufwendige Umsetzung in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen stehe. Politik und Verwaltung hätten das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wieder­eingliederung enorm überschätzt.»
Tages Anzeiger, 10.02.2016: IV-Bezüger finden kaum mehr Arbeit

Um die hohe Sparvorgabe trotzdem zu erfüllen und mehr Renten aufheben zu können, versuchten einige IV-Stellen, körperliche oder psychische Krankheiten zu Schmerzstörungen «umzudefinieren».  Denn wenn die SVP jahrelang behauptet, es gäbe viele «Scheininvalide», dann muss es die geben. Egal, wie. Der Bullshitter-in-Chief und seine Crew hatten ganze Arbeit geleistet.




Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel

Quelle: via @ IVInfo, August 21, 2017 at 05:35PM

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