Die bürgerliche Mehrheit der nationalrätlichen Sozialkommission plant in der der laufenden IV-Revision einen tiefgreifenden Einschnitt. Sie will unter 30-Jährigen künftig nur noch eine IV-Rente gewähren, wenn ein Geburtsgebrechen oder ein schweres körperliches Leiden vorliegt. Bis Mitte Mai erwartet die Kommission von Alain Bersets Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) einen Bericht zu den Auswirkungen des Mindestalters.
Doch nicht nur das: Die Kommission fordert bereits konkrete Gesetzesformulierungen, um Mitte Mai über die Altershürde entscheiden zu können. Dies bestätigt Kommissionspräsident Thomas de Courten (SVP): «Wir wollen wissen, wie das im Gesetz formuliert werden muss.» Knifflig sei die Definition jener unter 30-Jährigen, die weiterhin eine Rente bekommen sollen. Laut SVP-Nationalrätin Verena Herzog, die in der Kommission konkrete Gesetzesformulierungen verlangte, bestünde der Rentenanspruch bei Geburtsgebrechen sowie bei «objektiv messbaren, starken körperlichen Beeinträchtigungen etwa nach einem Unfall oder einer Infektion».
Vom Rentenbezug ausgeschlossen würden junge Erwachsene mit psychischen Diagnosen. Jährlich erhalten gegen 3000 unter 30-Jährige eine IV-Rente, zwei Drittel wegen psychischer Diagnosen. Auch FDP-Nationalrat Bruno Pezzatti bestätigt seine Absicht, dieser Gruppe keine IV-Rente mehr auszurichten mit dem Ziel, sie in den Arbeitsmarkt einzugliedern. «Der Bundesrat soll nun zu dieser Forderung Stellung nehmen und aufzeigen, mit welchen Massnahmen das erreicht werden kann.»
«Die Rechte will nur sparen»
Die Linke wirft den Bürgerlichen jedoch vor, es gehe ihnen nicht um die Integration der Betroffenen, sondern ums Sparen bei der IV. Bezeichnend sei, dass die SVP in der Kommission die vom Bundesrat beantragten zusätzlichen Eingliederungsmassnahmen abgelehnt habe, sagt SP-Nationalrätin Silvia Schenker. Sie befürchtet, dass der Rentenausschluss für unter 30-Jährige zu einer Verlagerung zur Sozialhilfe führt. Denn die Taggelder, welche die IV während Eingliederungsphasen bezahlt, würden maximal zwei bis drei Jahre ausgerichtet. Bei jenen psychisch Kranken, die heute eine Rente erhielten, handle es sich aber um Fälle, bei denen eine Integration kaum oder nur mit grossem Aufwand möglich sei. «Ich bin überzeugt, dass eine Lösung mit Taggeldern die IV viel mehr kostet als die Renten», sagt Schenker.Hintergrund der Debatte ist die starke Zunahme von IV-Renten wegen psychischer Erkrankungen bei jungen Erwachsenen. Während insgesamt die psychischen Diagnosen gut 40 Prozent aller IV-Neurenten begründen, sind es bei den 18- bis 24-Jährigen 70 bis 80 Prozent. Zudem stagniert bei dieser Altersgruppe die Zahl der Neurenten bei rund 2000 pro Jahr. Über alle Altersgruppen hat sich die Zahl der Neurenten jedoch seit dem Spitzenjahr 2003 halbiert. FDP, Arbeitgeber- und Gewerbeverband hatten deshalb vom Bundesrat bereits in der Vernehmlassung ein IV-Mindestalter von 30 gefordert. Der Bundesrat lehnte dies ab, will aber für junge psychisch Kranke die Eingliederungsmassnahmen verstärken.
Sozialhilfe oder IV-Taggelder?
FDP-Nationalrat Pezzatti betont, für ihn stehe die Eingliederung ins Erwerbsleben im Vordergrund und nicht das Sparen bei der IV. Auch Herzog beteuert, sie wolle Jungen mit psychischen Diagnosen die Chance zur möglichst schnellen Integration in den Arbeitsmarkt geben. Damit dies gelinge, müssten nötigenfalls Überbrückungshilfen etwa in Form eines Taggeldes ausgerichtet werden. Für CVP-Nationalrätin Ruth Humbel kommt das Mindestalter 30 nur infrage, wenn neben Taggeldern auch die nötigen Eingliederungsmassnahmen gewährt werden. «Eine Verlagerung zur Sozialhilfe darf es nicht geben.»SVP-Nationalrat Sebastian Frehner nimmt hingegen eine Verlagerung zur Sozialhilfe in Kauf. Er wolle jene vom IV-Bezug ausschliessen, die nie gearbeitet hätten und eine IV-Rente aufgrund psychischer Diagnosen erhielten, sagt er. Unter diesen gibt es nach Ansicht Frehners viele, die arbeiten würden, wäre der finanzielle Druck gross genug. «Sie müssen künftig eben von der Sozialhilfe leben, was nicht so lustig ist, weil die Sozialhilfe tendenziell tiefer ist als die IV-Rente.» «Glasklare Fälle» sollen laut Frehner weiterhin eine Rente erhalten.
Die Behindertenverbände warnen wie Schenker eindringlich vor den Folgen eines Mindestrentenalters. Die Mehrheit der jungen IV-Bezüger erhalte zu Recht eine Rente, sagt Marc Moser von Inclusion Handicap. «Eine generelle Alterslimite wäre für die meisten jungen Menschen mit Behinderungen existenzbedrohend.» Viele, die mit schweren geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen lebten, könnten selbst bei optimalen Eingliederungsbemühungen nicht oder nur eingeschränkt in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden.
Experte rät zu Alterslimit
Die Befürworter der Altershürde berufen sich auf Niklas Baer, der an Studien zur IV und zur Arbeitsintegration mitgewirkt hat. Baer hält IV-Renten für unter 30-Jährige für falsch, weil diese so meist dauerhaft ausgegliedert statt integriert würden. Seine Absicht sei nicht das Sparen, sondern die «Aktivierung» der Betroffenen. «Vielleicht kostet die Integration und die Ausbildung der Betroffenen die IV vorübergehend sogar mehr.»Eine Verlagerung auf die Sozialhilfe wäre das Letzte, was er beabsichtige, sagt der Leiter der Fachstelle Psychiatrische Rehabilitation an der Psychiatrie Baselland. Die Sozialhilfe verfüge nicht über spezifische Instrumente zur Eingliederung. Baer hält aber einen gewissen Druck auf die Betroffenen für sinnvoll. Dies könne auch über finanzielle Anreize geschehen, etwa bei den Taggeldern.
Quelle: via @Tages-Anzeiger, 05.05.2018
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