Freitag, 27. Dezember 2019

IV-Gutachten: Geht da – endlich – was?

Im November publizierte der Blick eine Artikelserie über IV-Gutachten und IV-Gutachter:

Heinz B. ist schwerst depressiv – Berner IV-Gutachter Dr. K. erklärt ihn trotzdem für voll arbeitsfähig

Ihre Gutachten sind gefürchtet: IV fliegt deutsche Ärzte ein

Berner Chefarzt kritisiert Gutachter: «Die IV-Stellen sind nicht neutral!»

IV streicht schwer kranker Franziska S. (53) Gelder – Noelle (17) muss Lehrlingslohn für die Pflege ihrer Mutter opfern

Gutachter werden vergoldet – Dank IV: Ärzte scheffeln Millionen

Er liess schwerkranke Franziska S. 237 Tage warten – Das ist der Bummel-Gutachter

Die IV und ihr Handicap – Ein invalides System

Bundesamt unter der Lupe – Berset lässt IV-Praxis überprüfen

Nach Gerichtsurteil: Bund muss IV-Arzt stoppen

Im letzten aufgeführten Artikel zitiert der Blick aus einem kürzlich ergangenen Urteil des St. Galler Versicherungsgerichts: Es sei «nicht erkennbar», dass Mast «über spezifische psychologische Aus- bzw. Weiterbildungen oder eine spezifische Qualifikation im Umgang mit psychometrischen Verfahren verfügt». Stattdessen besitze Mast «lediglich sekundä­res Grundwissen über psychologische Testverfahren», und zwar als Bestandteil «der inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Weiterbildung». Mast sehe sich «primär aufgrund seiner Person und weniger aufgrund seiner Aus- und Weiterbildung für neuropsychologische Beurteilungen befähigt».

Das ist ein bisschen lustig, weil eben dieser Henning Mast 2017 in einem unfassbar schwurbeligen und überheblichen Artikel in der schweizerischen Ärztezeitung geschrieben hatte: «Das vermeintlich komplexe versicherungsmedizinische Spezialwissen reduziert sich bei näherer Betrachtung auf eine überschaubare Grösse und ist einfach zu erlernen. Jeder erfahrene Kliniker kann ohne grosse Mühe ein guter Gutachter sein.»

Wie dieses «ohne Mühe ein guter Gutachter sein» konkret aussieht, hatte der Kassensturz bereits 2018 aufgezeigt: Ein Psychiater von Masts Gutachterfirma PMEDA hatte innerhalb von nur 36 Minuten ein – äusserst mangelhaftes – Gutachten erstellt. Nachgewiesen werden konnten sowohl die kurze Dauer als auch die inhaltlichen Fehler nur, weil der begutachtete Mann das Gespräch heimlich auf einen Tonträger aufgenommen hatte.

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Zwar enthüllte der Blick in seiner Artikelserie vom November insgesamt kaum etwas, was so oder so ähnlich nicht schon seit Jahren bekannt gewesen wäre, aber er schaffte es mit seiner intensiven Berichterstattung, dass endlich eine breitere Öffentlichkeit begriff: Hier läuft wirklich – wirklich – etwas schief. Diverse Politiker*innen haben dann in der Wintersession entsprechende parlamentarische Eingaben eingereicht:

Fehlentwicklungen im IV-Gutachterwesen korrigieren (Flavia Wasserfallen, SP)

Polydisziplinäre IV-Gutachten: Kriterien für die Anerkennung von Gutachten (Lilian Studer, EVP)

Hoch problematische IV-Gutachten (Katharina Prelicz-Huber, Grüne)

IV-Gutachten: Ist Zufallsauswahl die Lösung? (Christian Lohr, CVP)

Klärung des Vorgehens «Überprüfung von Gutachten» (Lilian Studer, EVP)

Wie passen Wunderheilungsglaube und polydisziplinäre IV-Gutachtertätigkeit zusammen? (Kathrin Bertschy, GLP)

IV-Expertisen. Werden genauere Informationen nur entsprechend dem gewünschten Ergebnis angefordert? (Benjamin Roduit, CVP)

Schreiben sich die IV-Gutachter beliebig oft selber ab und kassieren dafür? (Stefan Müller-Altermatt, CVP)

Quotenzielsystem des Bundesamtes für Sozialversicherung: Konflikt mit Rechtsanspruch und Untersuchungsgrundsatz? (Maya Graf, Grüne)

Kann man gleichzeitig zu krank für Eingliederung und trotzdem zu hundert Prozent arbeitsfähig sein? (Nadine Masshardt, SP)

Wie gelingt eine tatsächliche Arbeitsintegration von Menschen mit einem langdauernden Gesundheitsschaden durch die Invalidenversicherung? (Yvonne Feri, SP)

Bemerkenswert ist nicht nur die Fülle der Vorstösse, sondern auch die politische Brandbreite der Urheber*innen. Und auch das Fehlen von FDP- und SVP-Vertreter*innen. Diesen scheint es offenbar schlicht egal zu sein, mit welch fragwürdigen Methoden die Invalidenversicherung die Neurentenquote innerhalb der letzten 15 Jahre halbieren konnte. Das zeigte sich auch nochmal deutlich am 10.12.2019, als alle Nationalrät*innen der FDP und fast alle der SVP gegen Tonaufnahmen von Gutachtergesprächen stimmten (Die entsprechende Bestimmung kam trotzdem durch). Das Motto von FDP und SVP heisst also nach wie vor: Hauptsache sparen, egal wie. Aber das ist ja nichts Neues. Allerdings sind auch parlamentarische Vorstösse zum IV-Gutachtenwesen und der Praxis der IV-Stellen nichts Neues. Es gab sie seit Jahren immer wieder. Bisher entfalteten diese Vorstösse jedoch eher wenig Wirkung.

Was hingegen neu ist: Der Dachverband der Behindertenorganisationen, Inclusion Handicap, wird ab Anfang 2020 eine Meldestelle für IV-Opfer einrichten.

Und Bundesrat Alain Berset hat eine interne Untersuchung über die Aufsichtstätigkeit des BSV veranlasst. Im Tages Anzeiger vom 21.12.2019 (ABO) stehen zu den Hintergründen dieser Untersuchung ein paar interessante Details:

Bisher nicht bekannt war, dass das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) jährlich für jede kantonale IV-Stelle ein Sparziel festlegt. (…) Konkret bedeutet dies, dass die kantonalen IV-Stellen gemessen an der Bevölkerung ihres Kantons im Jahr 2018 nicht mehr Renten gewähren sollen als im Vorjahr. (…) So soll die IV-Stelle Aargau 2019 die Neurentenquote konstant halten, obwohl sie noch Pendenzen abbauen muss. Dies geht aus der schriftlichen Antwort der Aargauer Regierung auf eine parlamentarische Anfrage hervor: «Das BSV gibt Ziele vor (…). Für das Jahr 2019 lauten diese beispielsweise: Neurentenquote trotz Pendenzenabbau unter dem schweizerischen Durchschnitt halten, bei konstanter Ablehnungsquote.»

Bereits 2013 schrieb ich einen Artikel darüber, wie sich die Rechtsabteilungen der IV-Stellen einen Wettstreit zu liefern scheinen, wer es schafft, mit der abenteuerlichsten Begründung bestimmte Krankheitsbilder von IV-Leistungen auszuschliessen. Damals galt noch die Päusbonog-Rechtsprechung, die unter mysteriösen Umständen auf immer weitere Krankheitsbilder ausgedehnt wurde. Und ausgerechnet die IV-Stelle Aargau (die IV-Stelle mit der – siehe oben – unterdurchschnittlichen Rentenquote) zeigte sich dabei immer wieder ganz besonders kreativ bei der Einschätzung, welche Krankheitsbilder neuerdings «mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar» sein sollten.

Interessant auch dies hier aus dem Tages Anzeiger:

Die Sparziele scheinen auch einen unguten Wettbewerb unter den IV-Stellen zu fördern. Laut Aussagen einer früheren Mitarbeiterin der IV-Stelle Luzern legte deren Direktor besonders grossen Wert darauf, «gegenüber anderen kantonalen IV-Stellen besonders gut dazustehen». Die langjährige Mitarbeiterin liess sich dieses Jahr vorzeitig pensionieren, weil sie den internen Spardruck nicht mehr aushielt.

2014 schrieb ich darüber, wie sich der damalige Direktor der IV-Stelle Luzern, Donald Locher, in der Öffentlichkeit mit viel zu hohen IV-Betrugszahlen und fragwürdigen Methoden (Hirnstrommessungen, remember?) als Oberboss inszenierte. Kleines zusätzliches Detail aus dem damaligen Artikel: «Die IV-Stelle Luzern wurde vom Bundesgericht zurückgepfiffen, weil sie bei der Aufhebung der Renten nach Schlussbestimmung der IV-Revision 6a eine ganz eigene Auslegung (…) anwandte und somit eine im schweizweiten Vergleich sehr hohe Zahl von 180 Rentenaufhebungen vorweisen konnte.» 2016 zeichnete ich dann auch nach, wie die schweizweite Inszenierung des Luzerner IV-Direktors als grossartiger Pionier bei den Hirnstrommessungen in sich zusammenfiel.

Zurück zum aktuellen Artikel im Tages Anzeiger:

Laut CVP-Nationalrätin Ruth Humbel müsste sich die IV vor allem Ziele zur Integration der Versicherten in den Arbeitsmarkt geben. «Es sollte unter den IV-Stellen einen Wettbewerb geben, welche IV-Stelle die Versicherten am besten in den Arbeitsmarkt integriert. Quoten zur Zahl der neuen Renten sind ein zu wenig differenziertes Ziel.»

Dass ausgerechnet die Aargauer Nationalrätin Ruth Humbel findet, der Schwerpunkt einer IV-Stelle sollte auf der Integration liegen und Quoten seien «ein zu wenig differenziertes Ziel» entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Bereits 2011 hatte ich darüber geschrieben, dass im Jahresbericht 2010 der SVA Aargau vor allem die Jagd auf IV-Betrüger und die tiefe Rentenquote im Vordergrund standen, während die Eingliederung eher ein Randthema war. Stolz schrieb die IV-Stelle damals: «Der Auditbericht (des BSV) attestiert der IV-Stelle eine grosse Leistung (…) Die Neurentenquote ist tief, wesentlich besser als der schweizerische Durchschnitt». Die Aargauer Zeitung übernahm diese Gewichtung und schrieb unter dem Titel «Der Kanton Aargau ging gegen 24 IV-Bezüger vor» ausschliesslich über IV-Betrüger, die Einsparungen durch Rentenreduktionen und: «Die Ablehnungsquote betrug 54,6 Prozent – fünf Jahr zuvor hatte sie bei 38,7 Prozent gelegen.» Aber… Eingliederungen? Kein Thema.

Ich könnte endlos aus meinem Blog-Archiv der letzten zehn Jahre zitieren. All das, was der Blick nun durch seine Artikelserie so prominent ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt hat, konnte man seit Langem sehen. Wenn man es denn hätte sehen wollen.

Was es nun braucht, sind weder Alibiübungen noch oberflächliche Kosmetik, sondern grundlegende Änderungen auf verschiedenen Ebenen. Wie diese aussehen sollten, werde ich in einem weiteren Artikel aufzeigen (folgt in den nächsten Tagen).



Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel

Quelle: via @ IVInfo, December 27, 2019 at 03:57PM

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