Auf gute Nachbarschaft
Mit der Hartz-IV-Reform wird der Datenschutz von Beziehern geschleift. Auch Dritte will man zur Auskunft verpflichten. Und wer nicht petzt, dem droht ein Bußgeld
Von Susan Bonath
Seit der Einführung von Hartz IV werden Bezieher kontrolliert. Aktivisten besuchen den früheren Berliner Senator Harald Wolf (PDS/Die Linke), um gegen Spitzeldienste der Jobcenter zu protestieren (8. September 2006) Foto: Christian-Ditsch.de |
Am Montag tritt die Ende Juni vom Bundestag verabschiedete Hartz-IV-Reform in Kraft. Ausgenommen sind vorläufig nur einige Verfahrensvorschriften. Bei den mehr als 50 Einzeländerungen des Gesetzes blieben die seit Jahren scharf kritisierten Sanktionen unberücksichtigt. Neue Kann-Bestimmungen und Repressionsmöglichkeiten erhöhen den Druck auf Leistungsbezieher. Übersichtlicher wird der Paragraphendschungel im Sozialrecht nicht.
Mit der Gesetzesnovelle hat die Bundesregierung vor allem die den Beziehern zugedachten Pflichten verschärft. So werden Tausende Geflüchtete als Neuzugänge im System erwartet, da auskömmliche Arbeitsplätze fehlen. Doch um ihr Existenzminimum zu erhalten, müssen sie angeordnete Integrationskurse belegen. Alle anderen sollen künftig zu Eingliederungsmaßnahmen verpflichtet werden, sobald sie Leistungen beantragt haben. Das heißt: Die Behörden sollen ihnen Jobs anbieten, bei Bedarf auch Ausbildungsstellen. Mangelt es an ihnen, dürfen den Menschen auch Ein-Euro-Jobs auferlegt werden. Bisher durften Hartz-IV-Bezieher maximal zwei Jahre in einem Fünfjahreszeitraum dazu verpflichtet werden, künftig sollen es bis zu drei Jahre sein.
Das Schreiben zu weniger Bewerbungen oder das Ablehnen eines »zumutbaren« Stellenangebots führt weiterhin zu Sanktionen. Beim ersten »Vergehen« innerhalb eines Jahres wird der Regelsatz für drei Monate um 30 Prozent gekürzt. Beim zweiten Mal gibt es 60 Prozent Abzug, beim dritten Verstoß fällt alles weg. Jugendlichen von 15 bis 24 Jahren droht sofort eine 100-Prozent-Sanktion, beim zweiten »Pflichtverstoß« wird auch die Miete nicht mehr erstattet. Hinzu kommt ein weiteres Repressionsinstrument: die Ausweitung der »Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten«. Lehnt ein Klient etwa ein aus amtlicher Sicht »angemessenes« Jobangebot ab, darf der Sachbearbeiter ihm zusätzlich zur Sanktion vier Jahre lang bis zu 30 Prozent des nicht verdienten Lohns vom Regelsatz abziehen. Das gilt auch beim Vorwurf, eine Kündigung selbst verschuldet zu haben.
Jobcenter dürfen künftig die Existenzsicherung ganz versagen, wenn sie vermuten, dass Bezieher einen Anspruch auf vorrangige Leistungen haben – etwa Unterhaltsvorschuss oder Erwerbsminderungsrente –, bei der Beantragung dieser aber »nicht genügend mitwirken«. Verluste müssen erwerbstätige Aufstocker hinnehmen, wenn sie Lohnnachzahlungen erhalten. Diese werden nicht mehr auf die Monate angerechnet, für die sie gewährt wurden, sondern gelten als einmalige Einnahme. Freibeträge fallen dadurch weg. Einbußen drohen auch Aufstockern mit unregelmäßigen Einkünften. Für sie werden Leistungen zunächst vorläufig bewilligt. Hier müssen Jobcenter die Freibeträge über den Grundfreibetrag hinaus nicht mehr berücksichtigen. Diese müssten dann vom Bezieher nachträglich beantragt werden.
Der Datenschutz wird weiter ausgehebelt. Automatische Abgleiche mit anderen Behörden und Geldinstituten können nun monatlich statt bislang vierteljährlich erfolgen – sogar bei Familienmitgliedern, die selbst keine Leistung erhalten. Zudem wird in der Reform konkretisiert, dass vom Jobcenter bestellte medizinische oder psychologische Gutachter sämtliche Patientendaten ungefragt ans Amt übermitteln dürfen. Ebenso werden Bußgeldvorschriften für Dritte ausgeweitet. Heißt: Einem Vermieter oder Nachbarn, der dem Jobcenter auf Anfrage eine falsche oder keine Auskunft über den Bezieher gibt, droht eine Strafe von bis zu 5.000 Euro.
Das Anfechten von fehlerhaften Bescheiden wird erschwert. Schon jetzt gilt, anders als im übrigen Sozialrecht, dass Hartz-IV-Bezieher nur ein Jahr rückwirkend eine Überprüfung beantragen dürfen. Künftig müssen Behörden Fehler auch dann nicht beheben, wenn ein höchstrichterliches Urteil zur Sache später gefallen ist.
Diesen Verschärfungen stehen nur wenige Erleichterungen für Betroffene gegenüber. So dürfen Azubis mit geringer Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) nun aufstockendes Arbeitslosengeld II beantragen. »Schwer erreichbare« Jugendliche, etwa Dauersanktionierte oder Obdachlose, sollen mehr »Hilfe zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt« erhalten, zum Beispiel »therapeutische Behandlungen«. Wie das umgesetzt werden soll, bleibt allerdings unklar. Der als Neuerung verkaufte einjährige Bewilligungszeitraum für Leistung wurde bereits bisher häufig praktiziert. Das hatte Anfang dieses Jahres eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergeben. Aus dieser Regelung fallen weiterhin Beschäftigte mit variablem Einkommen sowie zur Mietsenkung aufgeforderte Klienten heraus.
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Quelle: via @Norbertschulze, July 30, 2016 at 03:46PM
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