Samstag, 16. Juli 2016

Charlottenburg (D): Wie eine kranke Alleinerziehende am Jobcenter verzweifelt

Wer in Not gerät, sollte besser nicht aufs Jobcenter angewiesen sein. Das musste Silke Jähn* aus Charlottenburg in den vergangenen Wochen feststellen. Die 44-Jährige ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und hatte sich nach einer kurzen Zeit der Selbstständigkeit im Mai arbeitslos gemeldet. Kurz danach erhielt sie überraschend eine Krebsdiagnose und musste von einem Tag auf den anderen völlig umplanen.

Unterstützung erhielt sie dabei von vielen Behörden, doch das Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf, auf dessen Zahlungen sie angewiesen ist, ließ sie im Stich. Eigentlich sollte das Center der mittellosen Frau eine Übergangszahlung anweisen. Stattdessen erhält sie seit Anfang Juni immer nur Briefe, in denen das Amt Unterlagen anfordert – und Silke Jähn anweist, aussichtslose Anträge bei anderen Trägern zu stellen.

Ein guter Tipp von der Agentur
„Ich habe mich am 10. Mai bei der Arbeitsagentur ab Juni arbeitslos gemeldet“, erzählt Silke Jähn. Dort habe man ihr gesagt, Anfang Juni bekomme sie das erste Arbeitslosengeld. Dann kam die niederschmetternde Diagnose. Am 30. Mai, einen Tag bevor sie ins Krankenhaus ging, erfuhr sie von der Arbeitsagentur, dass ihr Arbeitslosengeld I doch erst ab Ende Juni ausgezahlt werde. Es gebe aber die Möglichkeit, zur Überbrückung Arbeitslosengeld II zu beantragen. So kam das Jobcenter ins Spiel.

Am 30. Mai schrieb Silke Jähn eine ausführliche Mail ans Jobcenter, in der sie ihre Lage und ihre Erkrankung schilderte und das Überbrückungsgeld beantragte. Im Anhang schickte sie ihre Mietbescheinigung, Unterlagen der Kinder, und ihren ALG-II-Antrag mit. Dann ging sie ins Krankenhaus und ließ ihren Tumor entfernen. Die Operation erfolgte am Mittwoch, dem 1. Juni.

Aktuelle gesundheitliche Situation interessierte nicht
Zwei Tage später brachte ihr die Nachbarin Post vom Jobcenter ins Krankenhaus. Darin wurde sie aufgefordert, am 9. Juni um 9.30 Uhr im Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf zur „Antragsannahme“ zu erscheinen. Eine Woche später sollte sie mit ausgedruckten Bewerbungen erscheinen, denn man wolle: „Ihre aktuelle berufliche Situation besprechen“. Ihre aktuelle gesundheitliche Situation interessierte das Jobcenter offenbar nicht.

Am Telefon versuchte die Frischoperierte, die Termine vom Krankenhausbett aus abzusagen. Was gar nicht so einfach war. Denn die Antragsteller sind zur Mitwirkung verpflichtet und müssen den Anweisungen des Amtes nachkommen, ansonsten kann die Leistung verweigert werden. „Ich musste der Sachbearbeiterin am Telefon meinen ganzen Fall mehrmals schildern“, sagt Silke Jähn, „die Krankenschwester, die gerade im Zimmer war, konnte es kaum glauben.“

Amt forderte Unterlagen an, zahlte aber nicht
Die Termine war die Kranke nun los, dafür wurde der Briefwechsel intensiver. Das Amt forderte Unterlagen an. Viele Unterlagen. Statt sich nach der Operation auszuruhen, besorgte Silke Jähn nach der Entlassung aus der Klinik Versicherungsunterlagen, Bescheinigungen vom Finanzamt, Heiratsurkunden, Kindergeldbescheide und vieles mehr. Sie füllte Antragsformulare aus und reichte alles beim Jobcenter ein. Nur Geld bekam sie keines. Mittlerweile war es Mitte Juni und ihre letzten Mittel schon seit Ende Mai endgültig aufgezehrt.

Am 20. Juni schrieb das Jobcenter, dass sie Anspruch auf Unterhaltsvorschuss für ihre sechs und neun Jahre alten Kinder haben könnte. Bevor das nicht geklärt sei, könne sie nicht mit Leistungen des Jobcenters rechnen. „Die Mitarbeiterin der Unterhaltsvorschusskasse hat den Antrag innerhalb von 24 Stunden fertiggemacht“, sagt Silke Jähn. Weitere Unterstützung gab es vom Jugendamt. Dort bat eine Mitarbeiterin in einem Schreiben an das Jobcenter um eine Vorauszahlung, weil dies im Sinne der Kinder sei. Den Brief brachte sie persönlich bei Silke Jähn vorbei.

Auf andere Träger verwiesen
Doch im Jobcenter blieb man weiter hart. Ende Juni kamen gleich zwei Briefe am gleichen Tag. Wieder kein Geld. Stattdessen ein weiteres Abwimmelungsmanöver. Diesmal sollte die Kranke Grundsicherung (erster Brief) und Rente (zweiter Brief) wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beantragen. Den Grund dafür bekam sie auch schriftlich: „Sie sind verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen“, heißt es in den Briefen, denn: „Das Jobcenter ist gehalten, wirtschaftlich und sparsam zu handeln.“

In Silke Jähns Fall ist das nicht nur zynisch, sondern schlicht das Gegenteil der geforderten Wirtschaftlichkeit. Denn es ist jetzt schon klar, dass beide Anträge abgelehnt werden . „Es ist ja gut möglich, dass ich schon im nächsten Jahr wieder arbeitsfähig bin“, sagt sie und zuckt hilflos mit den Schultern.

Sie wirkt erschöpft und fiebrig, als sie auf die Behördenbriefe blickt, die auf ihrem Küchentisch einen beachtlichen Stapel bilden. Seit einigen Tagen muss sie Antibiotika nehmen, weil sich die Heilung der Wunde verzögert. Man sieht ihr an, dass sie sich Sorgen macht: Seit zwei Monaten hat sie keine Miete gezahlt und kaum noch Geld, um Essen zu kaufen. „Ich habe vor allem Angst, die Wohnung zu verlieren.“ Ihrem Vermieter hat sie die Situation in einer Mail geschildert. „Aber er hat noch nicht geantwortet.“

Anträge für nichts
Den letzten Schlag hat ihr ein Schreiben der Arbeitsagentur versetzt. Darin heißt es, ihr Arbeitslosgeld I sei nun bewilligt. Gezahlt werde aber nicht vor August, denn es werde mit dem Geld von Jobcenter verrechnet. „Ist das zu fassen?“, fragt Silke Jähn. Am Montag kam eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle des Gesundheitsamtes zu ihr nach Hause. Sie half ihr bei den komplizierten Anträgen für Rente und Grundsicherung. Auch von ihr erhielt sie die Aussage, dass die Anträge vermutlich abgelehnt würden. Man müsse sie aber „pro forma“ stellen.

Die Mitarbeiterin vom Gesundheitsamt will nun für sie einen Antrag bei der deutschen Krebshilfe stellen. Dort gibt es einen Härtefonds – falls der Sozialstaat versagt.

*Name geändert

Quelle: via @berliner-zeitung.de, July 16, 2016 at 11:29AM

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