Samstag, 30. Juli 2016

Neue Hartz-IV-Regelung: Das ändert sich ab dem 1. August – Die weitere Knechtung von Millionen Menschen geht in die nächste Phase.

1. August 2016 tritt die 75. Version des im Volksmund nur „Hartz IV“ genannten Gesetzespaketes in Kraft. Kaum ein Gesetz ist nach elf Jahren so oft novelliert, „optimiert“ und repariert worden wie das Zweite Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Das Neunte SGB-II-Änderungsgesetz sollte insofern der große Wurf werden, als die zweite Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der „Rechtsvereinfachung“ eine umfassende Entbürokratisierung des Hartz-IV-Systems sowie eine spürbare Effektivierung der Arbeitsverwaltung im Bereich der Jobcenter anstrebte. CDU, CSU und SPD hofften, die im SGB II geregelte Grundsicherung für Arbeitsuchende in Jahresfrist entrümpeln zu können.

Was sich sonst noch alles zum 1. August ändert, lesen Sie hier. 

Den Hauptgrund für diese viel zu optimistische Prognose des im Dezember 2013 unterzeichneten Koalitionsvertrages bildete die Tatsache, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechtsvereinfachung im SGB II“ zu jener Zeit bereits monatelang tagte und im Juni 2014 einen umfangreichen Katalog mit Empfehlungen zu den drei Teilbereichen „Einkommen und Vermögen“, „Kosten der Unterkunft und Heizung“ sowie „Verfahrensrecht“ präsentierte. Auch die Bundesagentur für Arbeit beschäftigte sich intensiv mit dem Thema, das ihr wegen der überbordenden Bürokratie seit Beginn des Reformprozesses auf den Nägeln brannte, und machte zahlreiche Änderungsvorschläge.

Der Berg kreißte und gebar eine Maus

Schon die ersten Überlegungen von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles zur „Entschlackung“ von Hartz II stießen auf energischen Widerstandder CSUunddes CDU-Wirtschaftsflügels. Abgelehnt wurde vor allem jeder Versuch, die Sanktionsregelungen beiHartz IVim Vorgriff auf ein zu erwartendes Bundesverfassungsgerichtsurteil zu liberalisieren. Nahles erwies sich als wenig konfliktfähig und gab dem Druck der Koalitionspartner an entscheidenden Punkten nach.

Der mit einer zwölfmonatigen Verspätung im Oktober 2015 vorgelegte Referentenentwurf zum Neunten SGB-II-Änderungsgesetz beseitigte zwar ein paar bürokratische Auswüchse im SGB II, die allen Beteiligten – Leistungsbeziehern wie Jobcenterbeschäftigten – ein Dorn im Auge waren, enthielt jedoch auch restriktive und neue Kontrollbestimmungen wie die Ausweitung der Ersatzansprüche bei „sozialwidrigem Verhalten“, mit denen Nahles ihren Kritikern im Unionslager offenbar das Gesetz schmackhaft machen wollte.

Staat tritt ausgerechnet jungen Menschen auf die Füße

Aus diesem Grund verweigerte Nahles auch Erleichterungen bei den Sanktionen für Unter-25-Jährige. Dabei werden Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene von den Jobcentern häufiger und schärfer sanktioniert als ältere Leistungsberechtigte. Nach zwei Pflichtverletzungen, z.B. dem vorzeitigen Abbruch eines Bewerbungstrainings und Ablehnung eines 1-Euro-Jobs, büßen sie nicht bloß die Regelleistung (Zahlung von Arbeitslosengeld II), sondern auch die Übernahme von Miet- und Heizkosten durch das Jobcenter ein – Wohnungslosigkeit ist häufig die Folge.

Diese übermäßige Strenge gegenüber jungen Menschen kennt man weder in vergleichbaren Ländern noch auf anderen Rechtsgebieten wie im Strafrecht. Obwohl der Sozialstaat die Pflicht hat, ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ (Bundesverfassungsgericht) für alle Transferleistungsbezieher zu gewährleisten, tritt er dieses Verfassungsgebot ausgerechnet bei jungen Menschen mit Füßen.

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Vereinfachungen für Jobcenter und Erleichterungen für deren „Kunden“

Mit der Gesetzesnovellierung sind nur wenige Vereinfachungen für die Jobcenter und ein paar kleinere Erleichterungen für die Leistungsberechtigten verbunden: An erster Stelle wird von der Bundesregierung immer die Verlängerung des Bewilligungszeitraums von in der Regel sechs auf zwölf Monate genannt – angesichts der Tatsache, dass jeder zweite Arbeitslosengeld-II-Empfänger vier Jahre oder länger im Bezug ist, eine längst überfällige Reform und eine Verringerung unnötigen Verwaltungsaufwandes. In vielen Jobcentern war diese Neuregelung allerdings schon gang und gäbe, bevor das Gesetz auf den Weg gebracht wurde.

Auszubildende und Studierende, dieBAföG-Leistungen beziehen, können ergänzend Arbeitslosengeld II erhalten. Wer das Arbeitslosengeld II ergänzend zum Arbeitslosengeld (I) erhält, kommt demnächst möglicherweise in den Genuss von Fördermaßnahmen der Agentur für Arbeit. 1-Euro-Jobs können innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren fortan maximal 36 statt bisher maximal 24 Monate lang übernommen werden. Auch großzügigere Freibetragsregelungen, die Einführung einer Vorschussregelung im laufenden Leistungsbezug und der Verzicht auf die Rücküberweisung von SGB-II-Leistungen im Todesmonat des Mitglieds einer Bedarfsgemeinschaft kann man positiv bewerten.

Verschärfungen statt Vereinfachungen von Hartz IV

Dies gilt aber keineswegs für jene Verschärfungen des Hartz-IV-Systems, die Arbeitslosengeld-II-Bezieher noch stärker unter Druck setzen und für Jobcenter-Mitarbeiter mehr Verwaltungsaufwand bedeuten. Künftig erstrecken sich Ersatzansprüche des Jobcenters nicht bloß auf Geld-, sondern auch auf Sachleistungen (z.B. Lebensmittelgutscheine) sowie auf Fälle, in denen die Betroffenen ihre Hilfebedürftigkeit (angeblich) ohne wichtigen Grund erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert haben. Damit wird ein zusätzlicher Sanktionsmechanismus geschaffen, der nicht durch die Verweigerung, sondern durch die Rückforderung von Leistungen wirkt.

Höchst problematisch ist auch die Zulassung einer „Gesamtangemessenheitsgrenze“ für die Kosten der Unterkunft und Heizung. Denn die Heizkosten eignen sich nur bedingt und dieMietengar nicht für eine solche Pauschalierung. Diese erleichtert nicht bloß weitere Kürzungen des Existenzminimums, sondern kann Hartz-IV-Bezieher auch veranlassen, ihre bisher vom zuständigen Grundsicherungsträger bezahlteWohnung ineinem gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und dorthin zu ziehen, wo die Bruttowarmmieten niedriger sind.

Dadurch leistet man einer Gettoisierung bzw. einer sozialräumlichen Segregation der Armutspopulation, die sich in Großstädten ansatzweise bereits seit geraumer Zeit erkennen lässt, tendenziell Vorschub. Ein höherer Drogenkonsum der Bewohner, wachsende Kriminalität und größere Brutalität im Alltag sind mögliche Folgen.

Hartz, aber einfach und fair gibt es nun einmal nicht

Zwischenzeitlich vorgesehen war auch eine Verschlechterung der Situation von temporären Bedarfsgemeinschaften, d.h. für geschiedene bzw. getrennt lebende Arbeitslosengeld-II-Bezieher mit gemeinsamen Kindern. Je nachdem, in welchem der zwei Haushalte sich die Kinder gerade aufhalten, sollte deren Regelsatz tageweise berechnet und nicht berücksichtigt werden, dass bestimmte Kosten doppelt anfallen.

Durch großes Engagement der Verbände, die das Wohl der Kinder und Alleinerziehender im Auge haben, konnte diese Verschlimmbesserung von Hartz IV am Ende jedoch verhindert werden. Durch die Konzentration auf Detailregelungen im SGB-II-Verfahrensrecht wirkt Gesetz jedoch technokratisch, wohingegen es eine klare politische Stoßrichtung vermissen lässt.

Fazit: „Rechtsvereinfachung“ und Entbürokratisierung hatte die Große Koalition als Ziel deklariert, Rechtsverschärfung ist das Ergebnis und die Schikanierung von Hartz-IV-Beziehern durch penible und für deren Probleme wenig sensible Jobcenter-Mitarbeiter eine mögliche Folge des Gesetzgebungsprozesses. Hartz, aber einfach und fair gibt es nun einmalof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Nach seinem Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik“ hat er kürzlich die „Kritik des Neoliberalismus“ in einer aktualisierten und erweiterten Neuauflage veröffentlicht. Christoph Butterwegges „Kritik des Neoliberalismus“ .

Im Video: So rücksichtslos werden Alleinerziehende auf dem Arbeitsmarkt behandelt


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Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Norbertschulze, July 30, 2016 at 09:39AM

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