Werden Fälle von Missbrauch durch körperliche, sexualisierte oder psychische Gewalt bekannt, werden in der Öffentlichkeit jedes Mal folgende Fragen diskutiert:
Warum hat sich das Opfer nicht (früher) gewehrt?
Warum haben es nichts gesagt?
Warum hat es niemand im Umfeld bemerkt?
Handelt es es ich bei den Opfern um Kinder, verstehen die meisten Menschen, dass Kinder sich nur schwer wehren können und sich oft in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter oder zur Täterin befinden. Bereits bei Jugendlichen schwindet aber dieses Verständnis und dem Opfer wird häufig eine Mitschuld am Missbrauch zugeschrieben («Das Mädchen sah also schon sehr reif aus für ihr Alter, kein Wunder dass der Lehrer…»). Bei erwachsenen Opfern schliesslich fehlt das Verständnis oft völlig und es findet nicht selten eine komplette Täter-Opfer-Umkehr statt («Hätte sie mal nicht so einen kurzen Rock getragen»).
Für Aussenstehende ganz besonders schwer zu verstehen ist es, wenn erwachsene Menschen – manchmal über viele Jahre hinweg – mit einem gewalttätigen Partner zusammenbleiben. «Also ich würde sofort gehen!» denken sich da viele. Was Sie damit eigentlich meinen: «Mir könnte sowas nicht passieren.»
Das ist ein Schutzmechanismus, der erklärt, warum oft gerade Frauen missbrauchten oder belästigten Frauen besonders harsch eine Mitschuld unterstellen. Die Vorstellung, dass man als Frau jederzeit Opfer von (sexueller) Gewalt werden könnte (und keine Möglichkeit hat, dem zu entkommen), ist so unerträglich, dass es angenehmer ist, zu denken, dass die Opfer doch irgendwie «selbst schuld» sind. Dann braucht man sich selbst nur «richtig» zu verhalten und es passiert einem nichts.
Caroline Orr schreibt dazu im Playboy:
In social psychology, these beliefs are known as “just world beliefs”, a concept that explains how people view the world and why some blame others’ behavior when bad things happen to them. According to the this theory, humans are driven to believe that the world is a fair, predictable and just place where our actions determine our fate; where people get what they deserve and deserve what they get. This set of beliefs is thought to play an important role in making people feel safe and providing a sense of control by reducing perceptions of risk and vulnerability.
Caroline Orr: Why Do Women Point Fingers? The Rise of Victim-Blaming in a Country Under Assault
Die meisten Fälle von Missbrauch durch körperliche, sexualisierte oder psychische Gewalt finden im Rahmen von familiären, persönlichen oder beruflichen Beziehungen statt. Der anonyme Pädophile oder Vergewaltiger, der plötzlich hinter einem Busch hervorspringt, «weil er durch das Opfer dazu provoziert wurde» (*ähem*), ist eher selten. Meist kennen sich Täter und Opfer. Eine – private oder berufliche – Beziehung bedeutet, dass wir der entsprechenden Person ein gewisses Vertrauen entgegen bringen. Mit einem männlichen Kollegen/Vorgesetzten alleine im Besprechungszimmer? Kein Problem. Mit einem Bekannten im Auto mitfahren: Natürlich, warum denn nicht? Wir vertrauen ständig anderen Menschen. Wer niemandem vertraut, gilt als hysterisch oder paranoid. Wird das Vertrauen aber missbraucht, wollen die Opfer ihren Glauben an eine «gerechte Welt» trotzdem nicht aufgeben und suchen deshalb die Schuld zuerst bei sich selbst: «Ich war wirklich total naiv und dumm», «Das musste ja passieren», «Ich hätte halt XY nicht machen sollen». ect.
Die Schauspielerin Annabella Sciorra ist eine der Frauen, die den Filmproduzenten Harvey Weinstein der Vergewaltigung bezichtigen. Sie hat 20 Jahre lang geschwiegen, weil sie sich so geschämt hat:
Sciorra didn’t tell anyone about it. “Like most of these women, I was so ashamed of what happened,” she said. “And I fought. I fought. But still I was like, Why did I open that door? Who opens the door at that time of night? I was definitely embarrassed by it. I felt disgusting. I felt like I had fucked up.” She grew depressed and lost weight. Her father, unaware of the attack but concerned for her well-being, urged her to seek help, and she did see a therapist, but, she said, “I don’t even think I told the therapist. It’s pathetic.”
Ronan Farrow: Weighing the costs of speaking out about Harvey Weinstein
Auch die Täter nutzen den «gerechte-Welt-Glauben» um ihre Gewalttätigkeit zu rechtfertigen. Sie schlagen ihr Kind und sagen: «Das hast du verdient.» Oder sie sagen in der Therapie: «Wenn Sie so eine Frau hätten wie ich, hätten Sie auch schon zugeschlagen».
Zwar gibt es auch weibliche Täterinnen, aber Gewalt und speziell sexuelle Gewalt geht im überwiegenden Teil von Männern aus. Männliche Gewaltausübung wurde lange Zeit schlicht als «gegeben» akzeptiert. Vergewaltigung in der Ehe ist in der Schweiz erst seit 1992 und in Deutschland seit 1997 strafbar. So kommt es nicht von ungefähr, dass sich Gewalttäter oft nicht für ihre Taten verantwortlich fühlen. Die Gesellschaft vermittelt Männern auch heute noch das Gefühl, es stehe ihnen zu, anderen Menschen Gewalt anzutun. Und Frauen zu «benutzen».
“I just kiss. I don’t even wait. And when you’re a star, they let you do it. You can do anything.”
“Grab them by the pussy. You can do anything.”– Donald Trump, aktueller US-Präsident
Von dieser Aussage von Trump existiert ein Tonmitschnitt, der kurz vor der letztjährigen US-Präsidentschaftswahl veröffentlicht wurde. In einer öffentlichen Debatte darauf angesprochen, sagte Trump:
“Nobody has more respect for women than I do,” Trump said. And when Cooper asked, “Have you ever done those things?” Trump answered, “No, I have not.”
Dagegen stehen die Aussagen von mindestens fünfzehn Frauen, die Trump der sexuellen Belästigung bezichtigen. Die Sprecherin des weissen Hauses liess diesbezüglich kürzlich verlauten: «All the women who say Trump sexually harassed them are liars».
Hat noch jemand Fragen, warum Frauen die Täter so selten anzeigen?
Selbstverständlich sind nicht alle Männer Gewalttäter. Aktionen wie #Aufschrei oder #MeToo zeigen allerdings, dass männliche (sexualisierte) Gewalt ein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft ist. Männer müssen nach wie vor viel zu selten wirkliche Verantwortung für ihr Tun übernehmen. Jedem Mädchen wird von klein auf beigebracht, wie es sich zu verhalten hat, dass es nicht vergewaltigt wird. Buben wird im Gegenzug nicht genau so selbstverständlich beigebracht, dass sie nicht belästigen oder vergewaltigen dürfen. Die Verantwortung nicht belästigt/vergewaltigt zu werden legt die Gesellschaft in die Hände der Opfer und nicht der – potentiellen – Täter. Und bei jeder Diskussion, in der Frauen darauf aufmerksam machen, wie alltäglich Übergriffe sind und wie belastend das ist, kommt von männlicher Seite garantiert früher oder später ein beleidigtes: «Darf man jetzt nicht mal mehr Flirten?»
Markus Theunert, Leiter des Schweizerischen Instituts für Männer- und Geschlechterfragen SIMG, dazu im Blick:
Wir von maenner.ch werden immer wieder gefragt: Wo ist die Grenze? Was darf Mann heute noch? Unsere Antwort: Es gibt keine eindeutige Grenze im individuellen Verhalten – weil es total auf die Situation und die Konstellation ankommt. Was sich jeder Mann fragen sollte, wenn er unsicher ist: Bin ich in Kontakt mit dem Gegenüber? Nehme ich das Gegenüber als Subjekt wahr – oder mache ich es zum Objekt meiner Begierde? Solange ich bezogen handle, also in Kontakt mit dem Gegenüber bin, ist die Gefahr eines Übergriffs minim. Wenn ich hingegen unbezogen handle, hat der Übergriff schon begonnen.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der man (manchen) erwachsenen Männern tatsächlich noch erklären muss, dass eine Frau ein gleichwertiges Gegenüber ist und kein Objekt, das sie nach ihren Wünschen «benutzen» können wie ein Spielzeug. In der sich manche Männer auf dem emotionalen Entwicklungstand eines 3-jährigen Kindes befinden, das keinerlei Verantwortung trägt und aus dessen Sicht nichts anderes zählt, als die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse. Und das die Bedürfnisse von andere Menschen (noch) nicht differenziert wahrnehmen kann. Bei kleinen Kindern ist dieses Verhalten natürlich und verständlich. Bei Erwachsenen (Männern) nicht.
Dennoch dürfen Männer mit dieser kindlichen Vorstellung beispielsweise in der immer weiter nach rechts abdriftenden NZZ regelmässig die «Political Correctness» geisseln, die ihnen – dem heterosexuellen privilegierten Mann – unverschämterweise Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen abverlangt. Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen! Sowas muss man sich mal vorstellen!
Slavoj Žižek in der NZZ vom 25.3.2017:
Die Ideologie, die die Verbreitung dieser angeblich respektvollen Haltung stützt, verdient eine nähere Betrachtung. Die Grundformel ist: «Nur Ja meint Ja!» Es muss ein explizites Ja sein, nicht bloss ein ausbleibendes Nein. «Nicht nein» läuft nicht automatisch auf ein «Ja» hinaus. Wenn eine Frau, die verführt wird, nicht aktiv Widerstand leistet, so bedeutet dies gar nichts – der Raum für Anklagen aller möglichen Formen von Nötigung bleibt offen.
Und hier wimmelt es plötzlich von Problemen: Was, wenn eine Frau es leidenschaftlich will, aber zu beschämt ist, es offen auszusprechen?
Ich übersetze das mal ins Deutsche: «Ich bin komplett unfähig (und auch unwillig) mich in die Frau einzufühlen, was zählt, ist einzig, ob ich sie vögeln kann – weil ein ‚richtiger‘ Mann das einfach tun MUSS.» Für Žižek (Jahrgang 1949) und für viele Männer, die ihm zustimmen, ist das Befinden oder die Wahrnehmung der Frau komplett irrelevant. Was zählt, ist einzig, dass sie in völliger Freiheit tun können, was sie wollen und weder davor, während oder danach auch nur die geringste Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen.
Oder anders gesagt: Ich. Ich. Ich.
Interessanterweise sind aber auch diejenigen Männer, die eben noch Žižek zugejubelt haben, zu einem erstaunlichem Einfühlungsvermögen und klarer Verurteilung des Täters fähig, wenn das Opfer von Belästigung oder Missbrauch nicht weiblich, sondern männlich ist. Als der ehemalige Sonderschullehrer Jürg Jegge im Frühjahr in einem Interview sagte, dass seine sexuellen Beziehungen zu minderjährigen Schülern «im gegenseitigen Einvernehmen» stattgefunden hätten, haben ihm das selbst die erbittertsten Political Correctness – Gegner nicht abgenommen.
Hätte es sich bei den Opfern um Schülerinnen gehandelt, wäre das öffentliche Verdikt vermutlich nicht ganz so einhellig ausgefallen. «Ach, die erfinden das bloss, weil weil enttäuscht waren, weil er sie nicht genügend beachtet hat» oder «Die haben ihren Lehrer doch verführt, die kleinen Luder» hätte es vermutlich da und dort geheissen. Bei solchen Aussagen schwingt die andronzentristische Idee (die auch viele Frauen verinnerlicht haben) mit, dass sich der «Wert» einer Frau dadurch definiert, ob sie es schafft, Männern zu gefallen. («Die Frau wird immer in Abhängigkeit vom Mann definiert». – Simone de Beauvoir). Wenn sie das nicht schafft, fühlt sie sich «entwertet» und «rächt» sich. Oder wenn sie dem Mann so gut «gefällt», dass er sie belästigt/genötigt/vergewaltigt, dann soll sie das doch als «Anerkennung ihrer Weiblichkeit» sehen. So die krude Vorstellung.
Sind die Opfer männlich, kommt kaum jemand auf die Idee, ihnen zu sagen, dass sie das, was ihnen widerfahren ist, doch einfach als «Anerkennung ihrer Männlichkeit» sehen sollen und sie es deshalb doch auch auch «auch gewollt» hätten. Den Opfern von Jegge wird heute – als erwachsene Männer – zugestanden, dass sie etwas als Missbrauch definieren dürfen, was der Täter als «einvernehmlich» darstellt. Etwas, was erwachsenen Frauen häufig nicht zugestanden wird, da die Stimme eines – mächtigen – Mannes mehr zählt als ihre (siehe Trump et al). Als Sonderschüler waren einst auch die Opfer von Jegge in einer unterlegenen Position und selbst jenen, die damals etwas gesagt haben, wurde nicht geglaubt.
Der DOK-Film «Das System Jegge – Missbrauch im Schatten der Reformpädagogik» zeigt auch, wie wenig die damaligen «Verantwortlichen» bis heute Verantwortung übernehmen wollen:
Fredy Züllig, Ex-Lehrer, Ernst Atzenweiler, ehemaliger Bezirksschulpfleger, und Hans Rothweiler, damals Projektleiter in der Erziehungsdirektion, schauen in dem Dokumentarfilm staunend und uneinsichtig zurück auf die Vergangenheit. (…)
Jürg Jegge ist schuldig, ja, aber schuldig sind auch all diese Wegseher – wenn nicht juristisch, so doch im moralischen Sinne. Die einzige Person, die im Film zu ihrem Versagen steht und den Abhängigkeitsfilz unter Heilpädagogen benennt, ist eine Frau. «Ich war ein Feigling», sagt Hanna Brauchli, die im Stiftungsrat des Märtplatzes von Jürg Jegge sass (…).
«Missbrauch ist lernbar» Rezension im Tagesanzeiger vom 6.10.2017
Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die einzige Frau im Film bereit ist, Verantwortung für ihr Wegsehen zu übernehmen, während die Männer lieber in den guten alten Zeit schwelgen, wo man mit dem Kumpel Jegge (dessen Arbeit man eigentlich offiziell hätte beaufsichtigen sollen), «so gut eins trinken gehen konnte.» Das liegt nicht daran, das Frauen bessere Menschen wären, aber Frauen wird von klein auf beigebracht, Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur für sich, sondern vor allem auch für das Wohlergehen von anderen. Das geht sogar soweit, dass Frauen, die belästigt oder vergewaltigt wurden, nicht an die Öffentlichkeit gehen, weil sie glauben, nicht das Recht zu haben, die Reputation, die Karriere oder die Familie des Täters zu zerstören. Die britische Journalistin Laurie Penny schreibt:
We are expected to show a level of concern for our abusers that they would never show us in return.
und:
We’ve been raised to believe that men’s emotions are our responsibility. Even the men who hurt us.
Penny beschreibt auch, wie Frauen, die es trotzdem wagten, die Täter anzuzeigen, in der Vergangenheit oft als «psychisch instabil» abgestempelt wurden, um ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben – und zwar bis zu dem Punkt, an dem nicht nur die Umgebung, sondern auch die Frauen selbst, an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln begannen. Und genau das war und ist die Absicht von Männern wie Weinstein, Žižek, Trump und vielen vielen anderen, um ihre Macht und die ihrer Kumpels aufrecht zu erhalten und ihr egomanisches und rücksichtloses Tun ungestört weiterführen zu können. Ihr Verhalten ist eingebettet in ein sich selbst aufrecht erhaltendes Machtsystem. Nachdem auch gegen immer mehr einflussreiche Männer aus der Medienbranche Vorwürfe wegen sexueller Belästigung laut wurden, schreibt Rebecca Traister:
In hearing these individual tales, we’re not only learning about individual trespasses but for the first time getting a view of the matrix in which we’ve all been living: We see that the men who have had the power to abuse women’s bodies and psyches throughout their careers are in many cases also the ones in charge of our political and cultural stories. (…)
[The Media] is an industry, like so many others, dominated by white men at the top; they have made the decisions about what to cover and how, and they still do.
Rebecca Traister: Our National Narratives Are Still Being Shaped by Lecherous, Powerful Men
Dies könnte auch erklären, warum die (männerdominierten) Medien vor der US-Präsidentschaftswahl den E-Mails von Clinton tausendfach mehr Aufmerksamkeit widmeten als Trumps zweifelhaftes Verhalten gegenüber Frauen:
Dadurch, dass nun immer mehr Fälle von Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung an die Öffentlichkeit kommen, merken viele Frauen, dass gar nie sie diejenigen waren, die etwas falsch gemacht haben und deshalb zum Opfer geworden sind, sondern dass der Machtmissbrauch einflussreicher Männer systemimmanent ist.
Nochmal Laurie Penny:
A lot of women have realized that they were never crazy, that even if they were crazy they were also right all along, and — how shall I put this? — they (we) are pissed.
Laurie Penny: We’re All Mad Here: Weinstein, Women, and the Language of Lunacy
Brit Marling über die Unmöglichkeit zu «freier» Zustimmung unter ökonomischem Druck:
For me, this all distills down to the following: The things that happen in hotel rooms and board rooms all over the world (and in every industry) between women seeking employment or trying to keep employment and men holding the power to grant it or take it away exist in a gray zone where words like “consent” cannot fully capture the complexity of the encounter. Because consent is a function of power. You have to have a modicum of power to give it. In many cases women do not have that power because their livelihood is in jeopardy (…)
Brit Marling: Harvey Weinstein and the Economics of Consent
Zwischenmenschliche Beziehungen sind ausserordentlich komplex. Es gibt unendlich viele Gründe, warum sich Opfer von physischer, sexualisierter oder psychischer Gewalt nicht wehren oder (lange) nichts sagen (Scham, Machtgefälle, finanzielle Abhängigkeit, direkte Drohungen oder emotionale Manipulation durch den Täter, ect.). Machtmissbrauch findet allerdings nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einer Gesellschaft, die das zulässt, weil sie oft lieber wegschaut. In Hollywood genauso wie im Schweizer Sozialbereich.
Jegge war dort nicht der erste Fall (und er wird wohl leider auch nicht der letzte sein). 2013 wurde bekannt, dass ein Schulsozialarbeiter während dreizehn Jahren 21 Buben sexuell missbraucht hatte. Genau wie Jegge galt er als «Pionier» in seinem Bereich (Schulsozialarbeit/ADHS) und seine Arbeit wurde – wie bei Jegge – in den Medien immer wieder äusserst wohlwollend portraitiert. Das Publikum mag solche Storys über Personen, die sich – scheinbar erfolgreich – um die Schwächsten oder Schwierigsten der Gesellschaft kümmern. Deshalb gestalten Medien das Narrativ des ultimativen «Heilsbringers» oft nur allzu willig mit. Ein solcher Star-Status macht es für Täter einfacher, Opfer unentdeckt zu missbrauchen und für Opfer deutlich schwieriger, Gehör zu finden. Denn es kann – es darf – doch nicht sein, dass dieser tolle Pädagoge/Sozialarbeiter/Psychologe, der auch in den Medien immer so kompetent auftritt, Kinder/Patienten/Mitarbeitende belästigt oder missbraucht. Das oder die Opfer müssen sich irren, ganz bestimmt.
Damit soll nicht gesagt werden, dass jeder im Sozialbereich Tätige als potentieller Täter verdächtigt werden sollte. Aber die Medien sollten gerade über soziale Tätigkeitsfelder, wo Beziehungen eine so wichtige Rolle spielen und gleichzeitig die Macht so ungleich verteilt ist, in Zukunft kritischer berichten. Dazu gehört auch, dass möglichst unterschiedliche Perspektiven gleichberechtigt einbezogen werden. Das kann zum Beispiel heissen, dass nicht nur die Meinung eines Experten, sondern auch Stimmen von Betroffenen eingeholt werden und zwar auch gegensätzliche. Ebenso wichtig wäre es, dass zu bestimmten Themen nicht immer die gleichen Experten in den Medien zu Wort kommen. Laut einem Bericht des Global Media Monitoring Project sind 75% der Experten in den Schweizer Medien Männer. Da im Sozialbereich deutlich mehr Frauen als Männer tätig sind, fragt man sich gelegentlich schon, warum die in den Medien regelmässig sichtbaren «Experten» (Pädagogen, Sozialwissenschaftler, Psychologen und Psychiater) so überproportional häufig männlich sind.
Wie gesagt, es geht um strukturelle Macht. Und wer mächtig ist, definieren die Medien auch dadurch, wem sie eine – öffentliche – Stimme geben.
In diesem Sinne:
Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel
Quelle: via @ IVInfo, November 01, 2017 at 06:00PM
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