Bis vor Kurzem lebte Krzysztof unter der Hamburger Cremonbrücke, einer blauen Fussgängerbrücke, die über die Willy-Brandt-Strasse führt. Krzysztof hauste dort etwa vier Jahre lang mit einem grossen Orang-Utan aus Plüsch. Mittlerweile ist er umgezogen, in den Container 2150632, einer von 130 Kirchen-Containern für Obdachlose in Hamburg im Winter. Dort wohnt der Pole, seit er krank wurde und das Leben auf der Strasse nicht mehr möglich war.
Als Krzysztof in die zehn Quadratmeter einzog, konnte er sich noch eine Suppe kochen. Heute kann er nicht einmal mehr aufstehen. Vielleicht wird das erste Bett seit Jahren auch das letzte in seinem Leben sein. Ein Bett in einer Box, die von aussen wirkt wie eine mobile Sanitäranlage. Aber immerhin ein Bett.
Andere Obdachlose sterben einfach auf der Strasse. Wie Udo, der „Hinz&Kunzt“-Verkäufer, der vor gut zwei Wochen tot an seiner Ecke gefunden wurde, dort, wo die Steinstrasse auf die Lange Mühren trifft. Am heutigen Totensonntag wird seiner und anderer obdachloser Verstorbener gedacht: bei einem Gottesdienst in Eimsbüttel und bei einer Andacht am Erinnerungsbaum auf dem Öjendorfer Friedhof.
Menschen wie Krzysztof und Udo werden mehr. Nach Angaben des Diakonischen Werks lebten vor zehn Jahren noch etwas mehr als 1000 Menschen ohne jedes Obdach in Hamburg, laut einer Befragung im Auftrag der Sozialbehörde waren es im vergangenen Jahr 1910. Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen. „Wir sehen diesen Menschen beim Verelenden zu.“
Das sagt Johan Grasshoff, 31 Jahre alt, Soziologe. Seit fast sechs Jahren arbeitet er für das Projekt „Strassensozialarbeit für obdachlose Menschen“ von Diakonischem Werk und Sozialbehörde. Zusammen mit seiner Kollegin ist er unterwegs auf den Strassen der Innenstadt. Sie haben Krzysztof von der Cremonbrücke in Container 2150632 gebracht. Denn der 58-Jährige hat keinerlei Leistungsansprüche in Deutschland. Jeden Tag kommt ein Pflegedienst, aus Spenden finanziert. Einmal in der Woche kaufen zwei Studentinnen ehrenamtlich für ihn ein. Und regelmässig kommen Johan Grasshoff und seine Kollegin zu Besuch, sagen „cześć” – „hallo” auf Polnisch – und sehen nach dem Rechten. Das kann auch mal bedeuten, den Eingekoteten im Sanitärcontainer nebenan abzuduschen.
Die Sterblichkeit ist hoch unter den Menschen ohne Wohnung, die Lebenserwartung niedrig: Laut einer Doktorarbeit am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Eppendorf aus dem Jahr 2018 werden Obdachlose nur 49 Jahre alt. Das sind 30 Jahre weniger als bei anderen. Studien zeigen, dass viele Wohnungslose an Krankheiten versterben, die gut zu behandeln wären. In den seltensten Fällen sterben sie an Unterkühlung, in der Untersuchung waren es drei von 162. Sie sterben an Vergiftungen, vor allem Alkoholvergiftungen, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionen. Und sie sterben trotz etlicher Angebote, die es allein in Hamburg für Menschen ohne Wohnung gibt – wie etwa dem Winternotprogramm.
Warum also sterben sie, obwohl ihr Tod vermeidbar wäre? „Menschen ohne Wohnung verlieren mit der Zeit das Gefühl für ihren Körper.“ Das sagt Stephan Karrenbauer, 57 Jahre alt und seit 25 Jahren Sozialarbeiter beim Obdachlosenmagazin „Hinz&Kunzt“. Ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist für viele nicht nur eine zu hohe Hürde, es spielt im Alltag auch einfach keine so selbstverständliche Rolle wie bei anderen: „Diese Menschen wenden so viel Kreativität und Energie auf, um bis zum nächsten Tag zu planen, wo sie essen, trinken, duschen und schlafen können: Da bleibt für anderes kaum etwas übrig.“ Auch die Sozialarbeiter wüssten nur sehr selten, wenn jemand schwer erkrankt ist. Ein Arzt sagte einmal zu Karrenbauer, Wohnungslose seien immer kränker als sie denken. „Das Wahrnehmen von Krankheit ist verlorengegangen“, sagt Karrenbauer, „dazu kommen die Betäubungen durch Alkohol und Drogen, auch von Schmerzen. Die meisten denken nicht darüber nach, dass sie sterben werden.“
Vor etlichen Jahren noch organisierte Karrenbauer Trauerfeiern für einzelne verstorbene Verkäufer, andere Obdachlose hatten ihn darum gebeten. „Ich habe dann für alles gesorgt, und am Ende sass ich allein da.“ Nur ganz selten sei einer der Verkäuferkollegen tatsächlich gekommen, um Abschied zu nehmen. Und irgendwann hatte Karrenbauer dazu keine Lust mehr. „Ich bin ja kein Berufstrauernder.“
Er fand schliesslich nicht nur eine Erklärung dafür, warum niemand kam, sondern auch eine bessere Lösung für Abschied und Gedenken. „Diese Menschen wollen nicht damit konfrontiert werden, dass zu ihrer eigenen Trauerfeier wohl niemand kommen wird. Dass ihre Lage desolat ist und sie allein sind“, sagt Karrenbauer. Deshalb initiierte er auf dem Öjendorfer Friedhof eine besondere Form der Erinnerung an Obdachlose: den Gedenkbaum, eine Birke, an der Namensschilder für jeden verstorbenen Hinz&Künztler hängen.
Die Urnen werden auf den Grabfeldern für Verstorbene ohne Angehörige beigesetzt, und einmal im Jahr, am Totensonntag, gibt es eine Gedenkfeier für alle Verstorbenen, 20 bis 30 sind das im Jahr. Eine Gedenkfeier mit Pastorin und Gesang, Kaffee und Kuchen unterm Pavillon. Es funktioniert: Jedes Jahr kommen 30 bis 60 Obdachlose, um ihrer Kumpels zu gedenken, erzählt Karrenbauer. „Das gibt ihnen die Würde zurück.“ Würde zurückgeben, das soll auch der jährliche ökumenische Gedenkgottesdienste für die verstorbenen Wohnungslosen der Stadt. „Sterbebett Strasse“ steht auf dem Ankündigungszettel. Jeder Name wird vorgelesen, für jede und jeden wird eine Kerze angezündet. Es sind immer mehr als 100.
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Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Welt, bit.ly/2pL1zJ0, 24.11.2019 (Mirror bit.ly/2OlpZT8)
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