Montag, 13. Juni 2016

Es kann jeden treffen

„Ich meinte immer, Obdachlose in der Schweiz seien nur Drogensüchtige oder Alkoholiker (..)“
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Es kann jeden treffen

Geleakter BEO Text:
Eine Frau gibt ihre Stelle auf, gerät in eine Abwärtsspirale und wird schliesslich obdachlos. Kein Amt kann ihr mehr helfen.

Vor zwei Jahren hatte sie noch alles. 
Eine Wohnung. Einen Job. Gute Gesundheit. Jetzt sitzt Caroline Grunder* in ihrer provisorischen Bleibe und zeigt auf einen Betreibungsregisterauszug mit acht Gläubigern. «Ich hätte nie gedacht, dass es wirklich jeden treffen kann», sagt sie. «Ich meinte immer, obdachlos sind nur Drogensüchtige oder Alkoholiker.»

Alles fing mit einer Einladung vor zwei Jahren an. Caroline Grunder tritt eine Stelle als Köchin in einem Walliser Wohnheim an, einige Wochen später bittet ihr Chef sie um ein Date. Warum nicht, denkt Grunder. Er ist sympathisch, sieht nicht schlecht aus. Die zwei trinken zusammen ein Bier. Eine Woche später führt er sie ins Theater aus. Nach dem dritten Date will Caroline Grunder aber bremsen. Sie fühlt sich nicht zu ihm hinge­zogen, denn mittlerweile hat sie sein zweites Gesicht gesehen. Bei den Dates lässt er Charme aufblitzen, in der Küche ist er anders. Herrisch. Unnachgiebig.

Ihre Absage kann der Chef nur schwer ­verkraften. Er beginnt, Caroline Grunder zu mobben. «Nicht nur mich», sagt sie. «Er war gegenüber allen in der Küche tyrannisch.» Doch sie leidet immer stärker unter seinen Ausfällen. Regelmässig muss sie sexistische Sprüche über sich ergehen lassen. «Zeig mir doch mal, wie du unter der Bluse aussiehst», blafft er sie an. Zudem teilt er Grunder für Anlässe ein, die sie gar nicht allein durchführen kann. Wenn Probleme auftauchen, gibt es für den wutschnaubenden Chef nur eine Schuldige: Caroline Grunder.

Mobbing bis zur Erschöpfungsdepression
Die Lage setzt ihr zu. Sie zieht sich immer stärker zurück und bekommt gesundheitliche Probleme: ein hartnäckiger Husten, der so eklig im Hals kratzt, dass sie immer wieder erbrechen muss. Und rasende Kopfschmerzen. Als der Chef ein halbes Jahr darauf sagt, dass sie allein ein riesiges Buffet organisieren muss, bricht Caroline Grunder zusammen. «Ich musste Fleischplatten und Crème brûlée zubereiten. Das kann ich normalerweise mit links. Ich bin ja Köchin.» Aber es dauert eine halbe Ewigkeit, bis sie die Speisen fertig hat. Danach zittert sie vor Erschöpfung.

Zwei Monate später empfiehlt ihr eine ­Kollegin einen Psychiater im Kanton Zürich. Grunder reist zum Termin aus dem Wallis hin. Er diagnostiziert eine starke Erschöpfungsdepression, unter anderem ausgelöst durch das Mobbing, und schreibt sie zu 100 Prozent krank. Grunder reicht ihre Kündigung trotzdem per Ende Jahr ein. «Ich wusste, dass ich niemals zurückkehren wollte, auch wenn es mir wieder besser gehen würde.» Gleichzeitig verlängert sie ihre Krankenttaggeldversicherung, damit sie bis auf Weiteres ein Einkommen hat.

Sie muss fort, weg vom Wallis
Nach der Kündigung lebt Caroline Grunder wie in einer Blase. Sie nistet sich zu Hause ein, erholt sich, liest viel und zwingt sich mindestens einmal am Tag zu Sport. Doch nach ein paar Monaten merkt sie: Im Wallis wird sie ständig an das Vergangene erinnert. Sie muss weg. Fluchtartig packt sie im Frühling die Koffer und zieht zu einer Kollegin nach Uster ZH. Eine vorübergehende Lösung, aber eine andere Freundin hat versprochen, im Sommer mit ihr eine Wohnung zu teilen. Doch unerwartet kommt die Liebe in die Quere: Die Freundin verlobt sich und zieht mit ihrem Partner zusammen.

In dieser Phase verliert Caroline Grunder die Kontrolle über ihre Finanzen. Die Rechnungen für die Untersuchungen, die sie wegen des Hustens macht – Lungentests, Magenspiegelung, Bronchoskopie –, muss sie im Voraus zahlen, bevor die Kranken­kasse sie rückvergütet. Dazu kommen 7000 Franken Zahnarztkosten und ­eine Steuerrechnung von über 5000 Franken. «Wegen meiner Depression war ich kaum fähig, mich um solche Sachen zu kümmern», erzählt sie.

Irgendwann geraten die Finanzen vollends aus dem Lot. Grunders Krankentaggeld wird gepfändet. Statt 3600 Franken pro Monat erhält sie noch das Existenzminimum, in ihrem Fall 2488 Franken. Die Einträge im Betreibungsregister sind verheerend für die Wohnungssuche. Die Verwaltungen, bei denen sie sich bewirbt, schreiben nicht mal zurück. Abgelehnt wird sie sogar dann, als das Betreibungsamt Uster ein Begleitschreiben mitschickt. «So begann meine Odyssee», sagt sie.

Caroline Grunder schläft ein paar Monate bei einer alten Freundin, danach bei einem befreundeten Ehepaar. Die ganze Zeit kämpft sie mit Schuld- und Schamgefühlen, vor allem, als sie im Winter beim Ehepaar wohnt. «Die Wohnung war sehr klein. Ich hatte ständig das Gefühl, ich falle ihnen zur Last.» Lieber zieht sie nach ein paar Monaten aus, als dieses Gefühl weiter zu ertragen.

Im Februar dieses Jahres steht sie vor dem Nichts. Das Wetter ist feucht und kalt. Sie reist im Kanton Zürich umher, schläft mal hier, mal dort, manchmal auch draussen. Einmal in einem WC-Häuschen in Meilen, das sie abschliesst, um sich sicherer zu fühlen. Einmal an der S-Bahn-Baustelle in Wollishofen, weil sie in der Nähe der Bauarbeiter keine Angst hat. Und einmal irgendwo in Oetwil am See, eingequetscht zwischen einer Mauer und einer Garage.

Am Tag irrt Caroline Grunder mit ihrem ZVV-Abo durch den Kanton. Manchmal duscht sie im Hallenbad oder geht am See spazieren. Ab und zu gönnt sie sich einen Kaffee im Café Sprüngli – «um ein Stück Würde wiederzuerlangen», sagt sie.

Nachts in der Kälte am Bahnhof
Im Café bleibt sie lange sitzen. Sie ist fasziniert von den Gesprächen rundherum, von den Problemen der Banker, der Hausfrauen, der Shopper. «Da wurde mir richtig klar, wie schnell man in eine Abwärtsspirale geraten kann», sagt sie. «Es kann jeden treffen. Ich sah genauso normal aus wie all die Leute ringsum, aber in zwölf Monaten war mir mein ganzes Leben aus den Händen geraten.»

Dass Caroline Grunder nicht öfter draussen schlafen muss, hat sie guten Freunden zu verdanken. Mitte Februar sitzt sie um zehn Uhr abends auf einer kalten Bank im Zürcher Hauptbahnhof, ein Buch in der Hand, den grossen gelben Koffer zu ihren Füssen. Plötzlich ruft eine Kollegin an, die in Wettingen AG wohnt – und fragt sie, wie es ihr geht. Wo sie denn sei. Grunder schluckt leer, gibt dann zu: am Hauptbahnhof. Ihre Freundin ist entsetzt: «Setz dich sofort in eine Bahn und fahr zu mir!» Um 23 Uhr kocht sie für Grunder, Hörnli mit Tomatensauce. Grunder kann auf dem Sofa schlafen. «Wenn das alles vorbei ist, will ich mal ein riesiges Essen für all meine Freunde machen», sagt die sonst so gefasste Frau mit feuchten Augen. «Ich wüsste nicht, was ich ohne sie getan hätte.»

Unterstützung bekommt sie auch von ihrem Psychiater, den sie zweimal pro Woche sieht. Als sie Anfang März erzählt, sie habe in einem WC-Häuschen geschlafen, verliert er die Fassung. Wie soll sie genesen, wenn sie nicht einmal ein eigenes Zimmer hat? Er behält sie in seiner Praxis, ruft in einer christlichen Jugendherberge an und arrangiert ein Zimmer.

Als das Betreibungsamt Uster der Herberge zusichert, dass es weiterhin für sie zuständig ist, kann Grunder einziehen. Der Psychiater schiesst ihr sogar die Miete vor, als das Geld nicht reicht. Sie ist froh, ein Dach über dem Kopf zu haben, fühlt sich aber im Heim nicht wohl. Im Mai die grosse Erleichterung: Eine Kollegin hat ein Zimmer frei, das sie mieten kann. 
Wenigstens bis im Juli.

Wirklich weiterhelfen kann ihr keiner
Während der ganzen Zeit geben Caroline Grunder zwei Sachen Halt. Sie lässt nie zu, dass man ihr die Probleme ansieht, trägt die Haare immer frisch gewaschen und gut frisiert. Und sie kämpft darum, ihre Finanzen wieder in Ordnung zu bringen. Dabei beisst sie auf Granit. Sie meldet sich beim ­Sozialdienst, bei Schuldenberatungsstellen, vier Stiftungen, der Kesb, dem Walliser Steueramt.

Wirklich weiterhelfen kann ihr ­niemand. Sozialhilfe erhält sie nicht. Die Zürcher Schuldenberatungsstelle kann ihr ohne festen Wohnsitz nicht beistehen. Die Schuldenberatungsstelle der Caritas sagt, es mache keinen Sinn, ein Budget aufzustellen, wenn sie vom Existenzminimum lebe. Die Stiftungen zahlen keine Steuerschulden oder wollen von einem Amt oder einer Kirche kontaktiert werden. Und das Steueramt im Wallis will die Schulden nicht erlassen. Als Hilfe empfiehlt ihr das Betreibungsamt Uster einen freiwilligen Beistand. Grunder schüttelt den Kopf. «Ich muss einfach warten, bis meine Schulden mit dem gepfändeten Taggeld abbezahlt sind. Und meine Lage bis dann akzeptieren.»

Langsam sieht Grunder Licht am Ende des Tunnels. Die Depression ist am Abklingen. Bis Ende Sommer will sie schuldenfrei sein. Das sollte ihr ­gelingen, wenn keine hohen Rech­nungen anfallen. Über die IV will sie den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt schaffen. «Wenn ich dann einen sauberen Betreibungsregisterauszug habe, kann ich mich endlich um eine Wohnung bewerben.» Caroline Grun­der atmet tief durch. «Und wieder ein festes Zuhause haben.»

* Name geändert
Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Agenda 2010 Leaks, Diigo, June 13, 2016 at 04:07PM

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