Das bedingungslose Grundeinkommen – realitätsferne Utopie oder praxisnahes Zukunftsmodell?
«Unter einem bedingungslosen Grundeinkommen versteht man eine staatliche, steuerfinanzierte, monatliche Zahlung an alle, unabhängig von Einkommen und Vermögen, auch unabhängig davon, ob die betreffende Person erwerbstätig ist oder nicht. Im Gespräch mit Klaus-Jürgen Scherer diskutierten Philip Kovce, Mit-Autor des Buches »Was fehlt, wenn alles da ist? Warum das bedingungslose Grundeinkommen die richtigen Fragen stellt«, und der Philosoph Julian Nida-Rümelin, der schon 2008 in einem Beitrag in der NG/FH vor den Spaltungstendenzen eines bedingungslosen Grundeinkommens gewarnt hatte, dieses Konzept.
Kovce: Seit Jahrzehnten meinen wir, wir müssten von Staats wegen eine Leitkultur vorgeben, die den Arbeitsbegriff zum Erwerbsarbeitsbegriff verkümmern lässt. Diese Unkultur hat zur Folge, dass wir Menschen mit aller Macht zur Erwerbsarbeit zwingen, ganz gleich, welchen Unsinn sie dabei treiben müssen. Es ist weder sozial noch liberal und hat überdies nichts mit Integration zu tun, Zwangsarbeit zu befürworten. Dass wir am Arbeitszwang festhalten, obwohl immer mehr Jobs von Maschinen übernommen und uns somit abgenommen werden, zeigt, dass wir es noch nicht lassen können, den Erwerbsarbeitsgötzen anzubeten. Genau das hat Hannah Arendt übrigens prophezeit: dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit zwar ausgehen werde, aber dass diese Gesellschaft, welche sich auf nichts anderes mehr verstehe, sich die Arbeit niemals ausgehen lassen werde. Wenn wir uns also nicht dazu entscheiden, die Erwerbsarbeitsgesellschaft aufzugeben, werden wir all unsere Intelligenz weiterhin darauf richten, noch absurdere, sinnlosere Erwerbsarbeitsplätze zu schaffen, da wir sie der Integration oder Disziplinierung willen für wichtig erachten. Die SPD untergräbt auf diese Weise ihren ursprünglichen Auftrag: Sie ist vor über 100 Jahren angetreten, um die Arbeiter zu ermächtigen, sich gegenüber den Kapitalisten Freiräume zu verschaffen. Heute tut die Partei genau das Gegenteil: In dem historischen Moment, der uns den Zwang zur Erwerbsarbeit tatsächlich aufgeben ließe, engagiert sich die SPD nicht dafür, sondern erfindet Instrumentarien, die uns noch ausgeklügelter zur Erwerbsarbeit zwingen sollen. Das finde ich zynisch.
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Nida-Rümelin: Wir haben zum Beispiel in Deutschland und Frankreich ein soziales Sicherungssystem, welches ganz wesentlich über den Faktor Arbeit finanziert ist. In den skandinavischen Ländern ist das anders. Man kann Systeme aber nicht einfach von heute auf morgen umsteuern. Das heißt, ich bin für eine weiterg ehende Abkoppelung der sozialen Sicherungssysteme vom Faktor Arbeit, weil das den Faktor Arbeit verteuert – also genau entgegengesetzt zu Ihrer Position – und damit Arbeit künstlich verknappt. Man sollte Schritt für Schritt die steuerfinanzierten Elemente des sozialen Sicherungssystems ausbauen, die mehr Freiheit schaffen. Eine gemeinsame Bürgerversicherung ist sinnvoll. Aber den radikalen Neuansatz, der Sozialstaat wird abgeschafft, und damit auch die kooperativen Strukturen, die darin eingebettet sind, lehne ich ab. Im deutschen Sozialstaat erlangt man auch Ansprüche, weil man zur Erwirtschaftung des Sozialproduktes beigetragen hat. Das sind Ansprüche, die auch die bekommen, die es nun gar nicht nötig hätten, die aber aus der Erwerbstätigkeit erwachsen sind. Dieses alles mit einem Federstrich zu vernichten, bedeutet im Übrigen auch, 110 Jahre Sozialgeschichte und 150 Jahre Kampf der Arbeiterbewegung zu vernichten.
Kovce: Das ist wunderbar polemisiert. Natürlich würde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht revolutionär, sondern evolutionär erfolgen. Wir könnten verschiedene Elemente der sozialen Sicherung, die wir heute schon kennen, bedingungslos werden lassen. Es ist vorstellbar, nicht nur Kindergeld, sondern auch eine Grundrente zu zahlen, welche Elemente der Bedingungslosigkeit in die Gesellschaft hineinwachsen lassen. Wäre das bedingungslose Grundeinkommen ein revolutionäres Projekt, hätten nicht über 100.000 Schweizer eine Volksinitiative dazu unterschrieben. Das Grundeinkommen ist eine perspektivische Idee, die uns an morgen denken und heute handeln lässt. Aber ich möchte auf einen Punkt zurückkommen, der in meinen Augen unseren wesentlichen Widerspruch ausmacht: Sie misstrauen den Menschen.
Nida-Rümelin: Nein. Man arbeitet aber nicht nur aus Vergnügen. Das ist eine illusorische Mittelschichtideologie. Ich arbeite auch, weil ich damit Geld verdienen muss.»
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Quelle: via @Grundeinkommen.ch, January 10, 2016 at 01:23PM
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