Sonntag, 10. Januar 2016

Das große Verbrechen als großes Versprechen

Abstoßend und gefährlich sind ebenso sehr die Arroganz der Mächtigen, wie die Dummheit der Massen. In der Vergangenheit haben beide schon einmal auf diese oder jene Weise autoritäre Neurosen offenbart. Dass die Letzteren, wiewohl selbst oft in der Zange von Mächten und Zwängen, trotzdem weitaus mehr sind als nur Opfer und Unterdrückte, machen verschiedene Geschichtserfahrungen deutlich, vom Faschismus bis zum Neoliberalismus. Beide, wenn auch völlig unterschiedliche, ins Tagesgeschehen hineinreichenden Massenphänomene haben aber eine zugrunde liegende Gemeinsamkeit: Den Geist der Kollaboration mit den Mächtigen, einen Geist, der dem allzu verständlichen Wunsch nach Gütern entspringt, die jene zu gewähren versprechen. Nicht mit wem im besonderen, sondern womit überhaupt die Massen kollaborieren, verwandelt sie gewissermaßen in Mittäter*innen und Mitläufer*innen. Sie wollen leben und Bedürfnisse befriedigen, aber träumen doch vom Unmöglichen, das so nur im sichtlichen sozialen Unrecht verwirklichbar ist: Nie wieder arbeiten! In Wirklichkeit kann sich keine Gesellschaft derlei leisten, außer natürlich auf fremde Kosten und mit weiteren Folgen.

Die allgemeine Akzeptanz der staatlichen Macht hängt jedoch nicht damit zusammen, ob man ihre Entscheidungsgewalten als reine Verwaltungstätigkeiten wahrnimmt oder, im Gegenteil, als indirekten Interessenbetrieb entlarvt, sondern einerseits mit dem dortigen Produktionsniveau und Güterverkehr und andererseits mit der Charakterstruktur der Menschenmasse, von der laut Wilhelm Reich sogar die Staatsform selbst maßgeblich abhängt: Ihm zufolge sei es die Massenstruktur, die so etwas wie Kolonialismus und Despotismus dulde oder stürze, „ohne die Fähigkeit, das Entstehen neuer Despotismen zu verhindern.“ Was bedeuten diese sonderbaren Sätze nun für den scheinbar noch sonderlicheren Vergleich von Faschismus und Neoliberalismus? Worin soll die vermeintliche Täterschaft der Massen sich denn zeigen? – In der Verbindung von Libidoökonomie und Imperialpolitik! Man wage also jeweils einen Rückblick und eine Vorausschau …

Lebensraum im Osten, die Enteignung der Jüd*innen und die Versklavung der Slaw*innen bedeutet für den deutsch-faschistischen Massenmenschen von einst reichlich wenig, außer dass er am Ende des Eroberungskrieges sich voraussichtlich nicht mehr um Brot und Arbeit kümmern müsse, weil die Ukraine schließlich seine Kornkammer wäre, der slawische Zwangsarbeiter also Sklave seiner Volksgemeinschaft und die französische Riviera sein Badeort. Abgesehen davon hat ihm der ausgehende Ariergedanke, jener nämlich einer gebürtigen Exklusivmitgliedschaft unabhängig von Leistung und Charakter, sicherlich geschmeichelt, wie denn auch das heutige Demokratiebekenntnis, einst gegen den Willen des Staates erkämpft, dem durchschnittlichen Europiden eine kulturelle Eitelkeit erlaubt, die auf dem gleichen Mist gewachsen ist. Man ist stolz auf seinen Staat, sein Volk, seine Werte.

Ähnlich, wie gesagt, verhält es sich mit dem neoliberalen Massenmenschen, konsumwütig wie er ist, denn auch für ihn bedeutet eine Militärintervention für Öl im Irak, für Kakao an der Elfenbeinküste und für Coltan im Kongo im wesentlichen nichts Anderes als eine kontinuierliche Lieferung von Gütern für seinen Luxusbedarf, ermöglicht durch die Herrschenden. Hören tut er zwar etwas von Demokratie, und er glaubt es auch insgesamt, aber er sieht dann im Grunde genommen doch nur den leistbaren Benzinpreis, das morgendliche Schokomüsli und sein neues Handy. Dass Abertausende hierfür sterben müssen oder zumindest lebenslang leiden, unter unwürdigsten Umständen arbeiten, ohne Heim und Zukunft, teilweise wie Vieh, zusammengepfercht auf engstem Raum, unmenschlich, trostlos eben – hat einen gemeinsamen Nenner: Die moralische Armut in materieller Sicherheit. Der Tellerrand, über den nicht hinaus gelugt wird, bietet sich insofern als charakterlich verwandte Form an. Kurz, für das große Versprechen billigt man stillschweigend das große Verbrechen.
von Mladen Savić

→ Mladen Savić (Titelbild), geboren 1979 in Zagreb im blockfreien Jugoslawien, hat auf der Bishop’s University in Lennoxville, Québec, Philosophie studiert. Nach seiner Rückkehr nach Europa ist er als Aktivist und Tagelöhner der kommunistischen Partei beigetreten und bald wieder ausgetreten. Bei Elias Bierdel am ÖSFK hat er eine Ausbildung zum zivilen Friedensdiener und internationalen Wahlbeobachter gemacht, aber auch im diplomatischen und humanitären Bereich nie Fuß gefasst. Derzeit lebt und arbeitet er als Lektor, Übersetzer und freier Autor in Wien und ist geschäftsführender Partner der Firma textlagune. Einige seiner Publikationen finden sich in ausländischen und inländischen Zeitschriften wie: Putevi, Krajina, Die Presse, Untergrundblättle, Augustin, Versorgerin, Streifzüge, Literatur und Kritik, Hinter den Schlagzeilen, etc. 2006 ist er einer der Autor*innen im Gedichtband „Südostwind: Anthologie der Migration aus Südosteuropa, den Balkanländern“ gewesen. Im Frühjahr 2016 erscheint sein erstes Buch, der Essay-Band „Mücken und Elefanten“, im Drava-Verlag.

Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Politicas.at, January 10, 2016 at 02:25PM

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