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Oswald Sigg kennt die Bundeshausmechanik wie kaum ein Zweiter. Er informierte für die Departementschefs Willi Ritschard, Otto Stich, Adolf Ogi, Samuel Schmid und Moritz Leuenberger. Und er krönte seine Karriere als Sprecher des Gesamtbundesrats. Hunderte von Pressekonferenzen hat er in dieser Funktion organisiert. Nun hat Sigg Anfang dieser Woche erneut ins Bundesmedienzentrum gebeten – diesmal aber nicht im Namen des Bundesrats. Vielmehr tritt der 72-Jährige jetzt gegen die Landesregierung an.
Als Mitinitiant des Volksbegehrens für ein bedingungsloses Grundeinkommen kämpft er für eine «konkrete Utopie», wie er es selbst nennt. Jeder Erwachsene, der in der Schweiz lebt, soll künftig monatlich 2500 Franken vom Staat erhalten. Und jedes Kind 625 Franken. Am 5. Juni stimmt das Volk darüber ab. Sigg weibelt an vorderster Front dafür, während der Bundesrat ein Nein empfiehlt. Ist das opportun? Darf ein ehemaliger Bundesratssprecher seine Bekanntheit gegen die Landesregierung einsetzen? Auf jeden Fall, findet Sigg. «Als Bürger kann jeder machen, was er will.» Derweil sehen Alt-Bundesräte sein Engagement kritischer. Einige hätten mehr Zurückhaltung erwartet.
Sigg wiederum ärgert sich über die gegenwärtige Landesregierung. Weniger über deren Nein zum bedingungslosen Grundeinkommen, das hat er erwartet. Aber die Art und Weise, wie der Bundesrat das Volksbegehren in der Botschaft abgeputzt habe, sei «unglaublich». Da schimmere null Verständnis durch.
Sigg ist der Einzige unter den acht Initianten, der einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ist. Seine Mitstreiter sind denn auch froh um ihn. Als ehemaliger Bundesratssprecher verleiht er dem utopischen Anliegen Glaubwürdigkeit. Und er spielte bei der Formulierung des Initiativtexts eine wichtige Rolle. «Seine riesige Erfahrung hat uns geholfen», sagt Mitinitiant Daniel Straub.
Auch im Abstimmungskampf will sich Sigg nun engagieren. Er plant ein bis zwei Auftritte pro Woche. Der erste fand am Mittwochabend bei der SP Dietikon statt. Im gut gefüllten Säli des Restaurants Krone trug der Pensionär seine Argumente im locker-trockenen Sigg-Stil vor – ab und an flankiert von seinem spitzbübischen Lächeln. «Die digitale Revolution frisst Arbeitsplätze», mahnte er die Genossen. Auch deshalb mache der faktische Zwang zur Arbeit keinen Sinn mehr. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen könne sich die Gesellschaft davon entbinden – und Sozialhilfebezüger von ihrem Stigma befreien. «Erst wenn alle ein Grundeinkommen haben, ist es für niemanden mehr ehrenrührig», argumentierte Sigg.
Nicht alle Dietiker Genossinnen und Genossen liessen sich davon überzeugen. Auch bei den Gewerkschaften hält sich die Begeisterung für das bedingungslose Grundeinkommen in Grenzen. Sie wollen lieber am bewährten Sozialversicherungssystem festhalten. Sigg macht sich denn auch keine Illusionen, die Abstimmung gewinnen zu können: «Grosse Ideen brauchen in der Schweiz immer mehrere Anläufe. Das war schon beim Frauenstimmrecht und bei der AHV so.» Er selbst werde die Einführung des Grundeinkommens wahrscheinlich nicht mehr erleben, sagt Sigg. Womöglich könnten er und die anderen Unterschriftensammler im Himmel aber einst den Ausländern zurufen: «Wer hats erfunden?»
Sigg zieht eine weitere Parallele zur AHV. Dank dieser könne er jetzt tun und lassen, was er wolle. Nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens sei dies für alle möglich – bereits vor Erreichen des Pensionsalters. Der Sozialdemokrat spricht daher auch von einer «AHV für alle».
Doch wer soll diese Utopie bezahlen? Die Initiative überlässt das Klären dieser nicht ganz unwesentlichen Frage dem Gesetzgeber. Und die Initianten sind sich untereinander keineswegs einig. Während ein Teil des Komitees an eine Erhöhung der Mehrwertsteuer denkt, möchte Sigg eine sogenannte Mikrosteuer einführen. Sie würde bei jedem Zahlungsvorgang ein bis zwei Promille abzwacken.
Wer 100 Franken am Bancomaten bezieht, müsste also 10 bis 20 Rappen abgeben. Und ein Unternehmen, das 100 Millionen überweist, hätte 100 000 bis 200 000 Franken beizusteuern. Das schenke ein, weil der gesamte digitale Zahlungsverkehr mitsamt des Hochfrequenzhandels 300-mal so gross sei wie das Bruttoinlandprodukt, sagt Sigg. Daraus resultiere ein Steuerertrag von über 200 Milliarden Franken.
Seine dritte Volksinitiative
Ein entsprechendes Konzept entwickelt Sigg gegenwärtig mit dem Zumiker Vermögensverwalter Felix Bolliger sowie den Professoren Marc Chesney (Uni Zürich) und Anton Gunzinger (ETH Zürich). Es soll voraussichtlich in einem Jahr in eine weitere Initiative münden.
Dies wäre bereits Siggs dritte Volksinitiative – nach jener für das Grundeinkommen und jener für eine verbesserte Schulkoordination, die er bereits im Alter von 25 Jahren eingereicht hat. Damals wirkte der heutige Sozialdemokrat noch für die Jugendfraktion der BGB (heute Junge SVP). Zusammen mit drei Kollegen verlangte er eine Vereinheitlichung des Schuleintrittsalters, des Schuljahresbeginns und der Schuldauer. So wollten die jungen BGBler den Familien mit schulpflichtigen Kindern den Kantonswechsel erleichtern.
Nach einem halben Jahr hatten sie die nötigen Unterschriften zusammen und wurden vom damaligen Bundesrat Hans-Peter Tschudi eingeladen. Dieser bedankte sich fürs Engagement und nahm das Anliegen in einem Bildungsartikel auf, der 1973 am Ständemehr scheiterte.
Kein Achtundsechziger
«Volksinitiativen prägten mein ganzes Leben», sagt Sigg. Die Überzeugungsarbeit für eine gute Idee und das Gespräch beim Unterschriftensammeln hätten ihn stets fasziniert. Auch seine Doktorarbeit widmete er einst den Volksinitiativen. Er beschrieb, wie sie selbst bei einer Ablehnung eine Wirkung entfalteten.
Inzwischen sei der Umgang mit Initiativen aber verludert, findet Sigg. «Was als ausserparlamentarisches Instrument erfunden wurde, wird heute von Mächtigen wie Christoph Blocher benutzt, um Druck auf den Bundesrat auszuüben.» Diese Taktik funktioniere hervorragend, wenn man mehrere Millionen Franken einsetzen könne. Sie sei aber nicht im Sinn des Erfinders. Der ehemalige Bundesratssprecher plädiert daher für eine Reform des Initiativrechts. Es brauche Transparenz über den Geldeinsatz und eine stärkere Kontrolle der Initiativtexte, sodass diese nicht mehr gegen Grundrechte verstiessen.
Sigg politisiert heute am linken Rand der SP, kommt aber aus gutbürgerlichem Haus in Höngg. Sein Vater war Steuerkommissär, die Mutter Serviertochter im Bahnhofbuffet Zürich («1. Klasse», wie Sigg betont). Und obwohl der junge Oswald 1968 Soziologie studierte, war er kein Achtundsechziger. Erst später rutschte er nach links und trat 1973 der SP bei. Ein politisches Mandat strebte er freilich nie an: «Ich konnte als Sprecher von Bundesräten mehr bewirken denn als Parlamentarier.»
«Er war der Beste»
Sigg setzte im Gegensatz zu anderen sogenannten Informationsleuten nicht auf Abwimmeln und Schönschwätzen, sondern auf Transparenz. Um einen Entscheid besser erklären zu können, versorgte er die Journalisten auch mal mit vertraulichen Hintergrundinformationen. Das schaffte Vertrauen und diente am Ende auch seinen Chefs.
Noch heute lobt ihn Adolf Ogi in den höchsten Tönen: «Er war der beste Kommunikationschef.» Dies, obwohl Ogi und Sigg politisch keineswegs gleich dachten. Der SVP-Bundesrat und Armeeminister holte mit Sigg einen Sozialdemokraten und Armeeabschaffungsbefürworter in seinen Stab. Dafür kritisierte ihn die Zürcher SVP heftig. Doch Ogi hat es nie bereut. Er schätzte auch Siggs departementsinterne Kritik – und seine Loyalität. «Er hat mich nie verseckelt», sagt Ogi. Selbst heute frage er ihn noch dann und wann um Rat.
Weniger gut funktionierte Siggs Bestreben um Transparenz während seiner vier Jahre als Bundesratssprecher. Die Landesregierung wünschte keinen solchen Effort. Doch Sigg nützte den geringen Spielraum, den er hatte – und war dadurch immer noch deutlich transparenter als heute sein Nachfolger André Simonazzi. «Ich war bei den Journalisten wohl beliebter als bei den Bundesräten», schmunzelt er.
Als Pensionierter schreibt Sigg nun für den sozialpolitischen Mediendienst «Hälfte/Moitié». Für diesen zog er im letzten Herbst zwecks Reportage in die Banlieue nördlich von Paris und lebte dort zwei Monate in einem kleinen Studio. Er ist erschüttert über das, was er angetroffen hat. Etwa über den Bretterverschlag, in dem eine Frau mit zwei kleinen Kindern hauste. Und darüber, dass er sich kaum verständigen konnte, obwohl er bestens Französisch spricht. In der Pariser Banlieue würden Maghrebiner, Muslime, Afrikaner und seit kurzem auch Chinesen komplett aneinander vorbeileben. Ihr französischer Wortschatz umfasse oft gerade mal 50 Worte. Darüber will Sigg in den nächsten Monaten im Mediendienst Hälfte berichten. Daneben bleibt Zeit fürs Enkelkind – und natürlich für den Abstimmungskampf.
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Tagesanzeiger, March 18, 2016 at 03:00PM
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