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Es wollen zu viele vom grosszügig gespannten Auffangnetz profitieren.
«Die Sozialkosten werden zur Zeitbombe.» Mit diesen Worten hat Finanzminister Ueli Maurer im Interview mit der Weltwoche kürzlich davor gewarnt, dass die Staatsfinanzen ausser Kontrolle geraten werden, wenn die öffentlichen Ausgaben weiterlaufen wie bis anhin. Praktisch gleichzeitig hat das Finanzdepartement die «Langfristperspektiven der öffentlichen Finanzen in der Schweiz 2016» veröffentlicht und damit klarzumachen versucht, dass es beim Geldverteilen mit der Gemütlichkeit vorbei sei. Der Bericht ist ein Alarmruf, der vor allem den Sozial- und Finanzpolitikern von Kantonen und Gemeinden den Schlaf rauben wird.
Welche Belastungen auf Kantone und Gemeinden zukommen, ist in der ersten Grafik rechts oben dargestellt. Würde man die heutige Sozialpolitik unverändert fortsetzen und auf der Finanzierungsseite nichts unternehmen, stiege die Verschuldung der öffentlichen Hand stark. Die rote Kurve zeigt dies für den gesamten Staat: Die Schulden würden von heute rund 35 Prozent des Bruttoinlandprodukts bis im Jahr 2035 auf 50 Prozent und bis 2045 auf 60 Prozent steigen. Ungemütlich wird es vor allem für die Kantone und Gemeinden.
Hemmungslose Maximierung
Mit andern Worten: Bildung und das Netz der sozialen Absicherung für Alter, Krankheit, Langzeitpflege und jenes für Sozialhilfe werden immer teurer – und wenn die Politiker nicht in die Schuldenwirtschaft abgleiten wollen, müssen sie gewisse Leute aus dem Netz werfen oder mit höheren Beiträgen und Steuern die Finanzierungslücken schliessen. Das Problem ist, dass das Netz so bequem ist, dass viele lieber darin bleiben, statt auf eigenen Beinen zu stehen. Lange nicht alle denken so wie jener Altersheimkoch, der mit zwei Jobs auf einen Netto-Monatslohn von rund 5300 Franken kommt – seine Frau verdient 300 Franken – und der sich aber nicht ins Sozialnetz legt, obwohl seine Familie da vom Staat wohl über 11 000 Franken pro Jahr mehr erhielte.
In den Gemeinden spürt man die zunehmenden Lasten schon deutlich. Gemeinde-Finanzchefs müssen immer häufiger Rechnungen mit roten Zahlen zeigen. Die Sozialkosten bringen sie ins Schwitzen, am stärksten steigen die Kosten für Pflege und Alter, die Ergänzungsleistungen zu AHV und IV schnellen nach oben – aber noch brisanter sind oft die Sozialhilfekosten, weil spektakuläre Fälle von hemmungsloser bis krimineller Maximierung der Bezüge immer wieder für Unverständnis und Unmut unter den Bürger sorgen.
Die Sozialhilfe ist in den vergangenen zehn Jahren etwa im gleichen Rhythmus gewachsen wie die Wirtschaft. Sie soll all jene stützen, die aus der Arbeitslosen- oder Invalidenversicherung fallen, aber sie geht zunehmend über die reine Existenzsicherung hinaus. Die zweite Grafik zeigt, dass die Anzahl Empfänger von Sozialhilfe in der Schweiz zwischen 2005 und 2014 von gut 237 000 auf 262 000 Personen gestiegen ist. Das verteilte Jahresvolumen macht gut 2,5 Milliarden Franken aus. 2008 schwenkten die Sozialhilfezahlen auf eine Art Wachstumspfad ein und legten seit da um gut 18 Prozent zu. Da es in dieser Zeit auch eine starke Zuwanderung aus dem Ausland gab, blieb die Sozialhilfequote, also das Verhältnis Sozialhilfeempfänger pro 100 Einwohner, konstant bei 3,2 Prozent. Diese Quoten sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Neuenburg kommt auf über 7 Prozent, Basel-Stadt, Genf und Waadt liegen etwas darunter, und die niedrigsten Sozialhilfequoten haben Graubünden, die Innerschweiz und Appenzell Innerrhoden bei etwa 1,5 Prozent.
Besondere Risikogruppen
Das ganze System ist in Ausdehnung. Das Bundesamt für Statistik schreibt im jüngsten Sozialhilfebericht, dass der Anteil der Bevölkerung, der ganz oder teilweise von der Sozialhilfe abhängig sei, seit Jahren langsam, aber kontinuierlich steigt. Nur in Perioden mit starkem Wirtschaftswachstum gehe die «Sozialhilfebetroffenheit» etwas zurück. Die Statistiker schreiben: «Offenbar gelingt den Sozialhilfebezügern die Reintegration in den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Selbständigkeit selbst dann nur ungenügend, wenn aufgrund des Wirtschaftswachstums vermehrt Arbeitskräfte benötigt werden.» Niedrigqualifizierte Personen fänden meist lange Zeit nicht ins Erwerbsleben zurück und trügen zur Bildung eines Sockels von Sozialhilfeabhängigen bei.
Als besondere Risikogruppen gelten geschiedene Frauen, Alleinerziehende, ungenügend Ausgebildete und Ausländer. Unter den Schweizern leben gut 2 Prozent, unter den Ausländern etwas mehr als 6 Prozent von Sozialhilfe. Die dritte Grafik zeigt, dass die Zuwanderer je nach Nationalität ganz unterschiedlich anfällig dafür sind, Sozialhilfefälle zu werden. Die rote Kurve zeigt, dass afrikanische Länder, aus denen viele der in die Schweiz gekommenen Flüchtlinge stammen, als Problemländer anzusehen sind. Die Gruppe der «Sozialhilfekandidaten» erfährt also gegenwärtig eine rege Zuwanderung.
Und die Flüchtlinge?
Jedenfalls ist nicht zu erwarten, dass die Migranten – wie von einigen Experten erhofft – zu einer Verjüngung der hiesigen Erwerbsbevölkerung beitragen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in die Sozialhilfe gelangen, ist viel grösser, als dass sie eine Beschäftigung annehmen. Michael Siegenthaler von der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die angekommenen Flüchtlinge, oberflächlich betrachtet, eigentlich gute Voraussetzungen für einen Arbeitsplatz mitbringen: 60 Prozent von ihnen sind unter dreissig, zwei Drittel im erwerbsfähigen Alter (18 bis 65 Jahre), drei Viertel Männer. Aber die Erfahrungen zeigen, dass unter den vorläufig Aufgenommenen fünf Jahre nach deren Einreise nur 17 Prozent eine Stelle haben. Bei den anerkannten Flüchtlingen sind es 33 Prozent, was bedeutet, dass zwei Drittel fünf Jahre nach der Ankunft vom Staat getragen werden.
Ganz einfach ist der Zugang zum Arbeitsmarkt natürlich nicht. Wer die Sprache nicht kann, hat nur halb so grosse Chancen auf einen Job wie Flüchtlinge, die Deutsch oder Französisch gelernt haben. Seltsamerweise achten die Behörden offenbar nicht darauf, französischsprachige Flüchtlinge der Westschweiz zuzuteilen. Hinzu kommt bei vorläufig Aufgenommenen die Ungewissheit, dass sie allenfalls zurückgeschafft werden könnten. Allerdings ist im Auge zu behalten, dass rund 90 Prozent der vorläufig Aufgenommenen ohnehin in der Schweiz bleiben. Ganz gering ist die Erwerbsquote bei den Asylsuchenden (2 Prozent).
Siegenthaler hat für einen hypothetischen Fall durchgerechnet, welche Beschäftigungswirkung von einer Zuwanderung von 100 000 Asylsuchenden im Jahr 2016 erwartet werden könnte. Bei einer Anerkennungsquote von 25 Prozent (wie 2015), einer Quote der vorläufig Aufgenommenen von 30 Prozent und den bisher beobachteten Wahrscheinlichkeiten einer Arbeitsaufnahme sowie ohne Familiennachzug hätte man in fünf Jahren aus dieser Gruppe insgesamt gut 10 000 Erwerbstätige zu erwarten.
5000-Franken-Salär ist zu klein
Ein Zehntel würde es also in den Arbeitsmarkt schaffen, und vier Zehntel würden von der Sozialhilfe leben – sofern die anderen fünf Zehntel der Abgewiesenen tatsächlich die Schweiz verlassen würden. Die Mehrkosten des Nichtarbeitens werden zurückhaltend auf 35 000 Franken pro Person und Jahr geschätzt.
Kann man denn die Wahrscheinlichkeit, dass Asylanten in den Arbeitsmarkt gelangen, nicht erhöhen? Es gibt ja zahlreiche Massnahmen zur Erleichterung der Integration. Die diesbezüglich höchste Hürde besteht aber in den Anreizen der Sozialhilfe. Es fällt nicht leicht, in die raue Arbeitswelt zu gehen, weil man «draussen» oft sogar weniger verdient als in der staatlichen Stube. Ein weiteres Beispiel aus der Praxis veranschaulicht das. Ein Gewerbetreibender hat beim Sozialamt angefragt, ob es Sozialhilfebezüger gebe, die Interesse hätten an einer Stelle als Magaziner; er würde auch Ausbildung und längerfristige Perspektiven im Betrieb bieten. Ein gut dreissigjähriger Interessent wollte diese Chance wahrnehmen, merkte dann aber in den Gesprächen, dass er mit dem gebotenen Lohn von rund 5000 Franken monatlich viel schlechter fahren würde als mit der Sozialhilfe. Als Familienvater mit Frau und zwei Kindern kommt er gemäss den für die Sozialhilfe geltenden Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) in seiner Gemeinde alles in allem auf mehr als den gebotenen Lohn, und das erst noch steuerfrei. Unter einem Monatslohn von 6500 Franken zahlte es sich für ihn nicht aus, die Stelle anzunehmen, er schlug das Angebot aus.
Wie kommt das zustande? Die Richtlinien der Skos, einer vor allem aus Angehörigen der Sozialbranchen und öffentlichen Vertretern zusammengesetzten Kommission, legen Unterstützungsansätze fest, die in Kantonen und Gemeinden praktisch verbindlich sind. Für einen Einpersonenhaushalt gibt es zur Deckung des Grundbedarfs monatlich 986 Franken, bei zwei Personen 1509 Franken, bei zwei Personen und vier Kindern stehen knapp 2600 Franken pro Monat zur freien Verfügung. Alle Leistungen sind steuerfrei.
«Tickende Anstandsbombe»
Hinzu kommen die Übernahme der Miete, der Krankenversicherung, der AHV sowie eine Vielzahl sogenannter situationsbedingter Leistungen durch den Staat, beispielsweise krankheits- und behinderungsbedingte Ausgaben, Erwerbskosten und Auslagen für unbezahlte Arbeit, Kosten für Integration und Betreuung von Kindern und Jugendlichen, Kosten bei Wegzug aus der Gemeinde, Schule und Kurse, Urlaub/Erholung, einfache Grundausstattung mit Mobiliar, Besuchsrechtskosten. Es liegt im Ermessen der Sozialhilfefachleute, was gewährt werden soll. Diese verweisen auch darauf, dass die Arbeitslosen- und die Invalidenversicherung in den letzten Jahren strenger geworden seien und dass die Sozialhilfe auch deshalb mehr auffangen müsse.
Was ist nun eher typisch für die Schweiz? Der Koch, der zu einem Lohn unter dem Sozialhilfeniveau arbeitet, oder der Ungelernte, der wegen grosszügiger Sozialhilfe eine Stelle ablehnt? Jede Gemeinde hat eigene Vorgehensweisen, aber es gibt genug Einzelfälle, die darauf hindeuten, dass es ein Problem gibt. Ein Teil der Unterstützten nützt unter Mitwirkung der Fachleute die Sozialhilfe so aus, dass sie nicht mehr ein Auffangnetz, sondern eher eine Vorzugsausstattung darstellt.
Die St. Galler Ökonomieprofessorin Monika Bütler hat in diesem Zusammenhang den Begriff «tickende Anstandsbombe» ins Gespräch gebracht. Sie verweist darauf, dass die soziale Absicherung in der Schweiz grosszügig sei, sich aber nur finanzieren lasse, wenn die Leute Hemmungen hätten, den Sozialstaat maximal auszunützen. Sobald die Bezüger aufs Maximum gingen, sei das Gleichgewicht nicht mehr zu halten. Die Frage nach der Aggressivität der Leistungsempfänger stellt sich natürlich auch für Krankenversicherung, Altersvorsorge oder Pflege, aber in der Sozialhilfe wohl am dringendsten, weil mit der Zuwanderung ausländische Ansichten über die Rolle des Staates da am stärksten an Einfluss gewonnen haben.
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Weltwoche, May 29, 2016 at 10:57PM
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