Freitag, 6. Mai 2016

Alles nur geklaut

Letzten Herbst rief Agile (Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen in der Schweiz) auf Facebook mit folgenden Worten zum Spenden auf:

AGILE.CH hat ein spannendes und wichtiges Projekt in der Pipeline. Da wir keine reiche Organisation sind, versuchen wir nun zum ersten Mal überhaupt, die nötigen Finanzen über Crowdfunding aufzutreiben.

Und wie man das heute so macht, hat Agile dazu auch ein supersexy YouTube-Video veröffentlicht.

39 SpenderInnen fanden das Video so sexy überzeugend oder die Aussicht auf ein persönliches Dankesschreiben vom Agile-Präsidenten (Bei 10.- Spende), ein Zvieri im Agile-Büro (200.-) oder ein Besuch mit Agile im Bundeshaus (500.-) so verlockend, dass sie das Projekt bereitwillig unterstützten. Die «für die Erarbeitung, die Gestaltung und den Druck der Broschüre» benötigten 7000.- wurden sogar übertroffen und die Broschüre «Sprache ist verräterisch» konnte produziert werden.

Agile schreibt:

Um eine Kommunikation zu fördern, die zu weniger Missverständnissen, Enttäuschungen und Verletzungen führt, hat AGILE.CH 2‘000 Exemplare an Lehrpersonen, Medienschaffende, Politiker und Verwaltungen verschickt. Tragen auch Sie dazu bei, Sprache und Denken zu verändern. Bestellen Sie noch heute die 24-seitige Broschüre «Sprache ist verräterisch» zum Selbstkostenpreis von 8 Franken.

Eine PDF-Version der Broschüre kann auf der Seite von Agile nicht heruntergeladen werden. Ob «Sensibilisiert euch gefälligst! Aber nur gegen Bezahlung!» für eine Behindertenorganisation der richtige Ansatz ist, sei mal dahingestellt. Werfen wir trotzdem einen Blick in die von Agile und dem Gleichstellungsrat herausgegebene Broschüre «Sprache ist verräterisch». Die Einleitung beginnt folgendermassen:

Gesagtes und Gemeintes sind nicht immer identisch. Der eine sagt oder schreibt etwas und geht ganz selbstverständlich davon aus, dass der Zuhörer oder Leser es auch so versteht, wie es gemeint war. Oft aber ist das, was beim Empfänger ankommt, nicht das, was der Absender ausdrücken wollte. Vorstellungen und Assoziationen schwingen mit, die dem Inhalt einen negativen Beigeschmack verleihen. Und wenn in diesem Zusammenhang dann noch das Thema «Behinderung» mit ins Spiel kommt, wird es heikel.

Menschen mit Behinderungen haben ein Recht und einen Anspruch darauf, genauso respektvoll behandelt zu werden wie Menschen ohne Behinderungen. Dies auch dann, wenn über sie gesprochen oder geschrieben wird. So manches ist Gewohnheit, leicht und schnell dahingesagt. Aber Diskriminierung drückt sich nicht nur durch Handlungen, sondern auch in der Sprache aus.

Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit dann bitte nochmal auf die ersten Sätze lenken dürfte: «der eine», der Zuhörer, der Leser, der Empfänger, der Absender. In der Einleitung erstmal ausschliesslich die männliche Form verwenden und dann ein paar Zeilen später dozieren, «dass sich Diskriminierung auch in der Sprache ausdrückt»? Man ist ein bisschen verunsichert, ob die HerausgeberInnen das Thema der Broschüre selbst auch wirklich verstanden haben.

Um die Sache kurz zu machen: Nein, haben sie nicht. Ist auch ein bisschen schwierig, wenn die Eigenleistung einer 24-seitigen Broschüre sich auf die wenigen Sätze der Einleitung beschränkt. Der ganze restliche Inhalt ist nämlich schlichtweg abgeschrieben. Beim von der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern bereits vor zwei Jahren herausgegebenen «Sprachleitfaden Behinderung» (Ich habe damals darüber geschrieben), beim von Betroffenen getragenen Projekt Leidmedien.de und beim bei Leidmedien als Quelle angegebenen Lexikon von Beate Firlinger: Buch der Begriffe. Sprache, Behinderung, Integration (2003).

Alles nur geklaut. Wie man das eben so macht bei Agile und beim Gleichstellungsrat. Natürlich ohne Quellenangabe. Wie man das eben so macht bei Agile und beim Gleichstellungsrat.

Man muss ja nicht das Rad neu erfinden (wenn man die Quellen angibt), aber mit dem Wenigen, was man selbst beiträgt, die gute Arbeit der Quellen total zu verbocken, das muss man auch erstmal schaffen. Leidmedien.de stellt nämlich gleich zu Beginn klar:

Ein Rezept haben auch wir nicht. Auch unter behinderten Menschen sind die Bezeichnungen umstritten. (…) Wenn Sie sich unsicher sind, fragen Sie die Person selbst, wie sie gerne benannt werden möchte!

Agile hingegen macht diese Differenzierung nicht; sie gibt vor, für alle Behinderten zu sprechen und schreibt als letzten Satz in der oben angeführten Einleitung:

Noch immer sind Begriffe gebräuchlich, die Menschen mit Behinderungen als diskriminierend und entwertend empfinden.

Und Agile kategorisiert die Begriffe dann in einer Tabelle nach «in» bzw. «out». «in & out» klingt wie eine Überschrift für Stylingtipps in der Bravo. In den 80-igern. Gleichzeitig wirken die teils ausführlich-oberlerhrerhaften Begriffserklärungen ziemlich deplaziert für ein Sensibilisierungs-Tool. Aber das ist halt so, wenn man einfach aus einem Lexikon  abschreibt, das für einen anderen Zweck konzipiert wurde.

Als Sahnehäubchen sind zur «Auflockerung» noch einige unlustige Comics (Wir können auch witzig! haha!) eingestreut. Die Comics wurden – natürlich – auch nicht passgenau für diesen Zweck entworfen, sie existierten schon vorher.

Bleibt die Frage: Wofür wurden eigentlich die über 7000.- gesammelt?

Für‘s Abschreiben der Texte? Für die Übernahme der bereits existierenden Illustrationen? Für das Layout? (Entschuldigung, welches Layout?) Und auch der Druck einer solchen Broschüre kostet keine 7000.- Und mit einem durchdachten Konzept und Layout hätte man dafür auch keine 24 Seiten drucken lassen müssen, aber ach… ich fange gar nicht erst an. Für ein schluddrig zusammengeschustertes Machwerk mit kaum sichtbarer Eigenleistung sind 7000.- jedenfalls eine geradezu unverschämte Summe.

Nicht nur «Sprache ist verräterisch» sondern auch die Haltung der Herausgebenden, welche sich in dieser Broschüre an allen Ecken & Enden widerspieglt.

Für «die Behindis» reicht es, wenn wir wie die alte Fasnacht mit einem ausgelutschten Thema ankommen, als wäre das der «aktuelle heisse Scheiss». Für die Behindis muss man auch keine inhaltlich und visuell eigenständig gestaltete Broschüre zu einem Thema entwickeln, Copy & Paste reicht auch. Quellenangaben? Natürlich nicht – dadurch könnte ja ein/e UnterstützerIn, die/der für das Projekt gespendet hat, noch drauf kommen, dass wir so gut wie alles abgeschrieben haben.

Ich würde das mal als komplette Verarsche bezeichnen. Von Betroffenen, den wirklichen AutorInnen der Texte, den Crowdfunding-UnterstützerInnen und potentiellen KäuferInnen der Broschüre.

Bei der Produktion einer Broschüre alle verarschen und in ebendieser Broschüre dann Respekt «im Namen der Behinderten» einfordern? Man müsste lachen, wenn es nicht so widerwärtig und absurd wäre.

Ausserdem @Agile: Wenn man einen Motionstext (Der Begriff «invalid» soll in der nationalen Gesetzgebung ersetzt werden) für eine Nationalrätin schreibt, sollten die Argumente dann schon korrekt sein:

Begriffe wie «Idiotie» (…) sind aus dem Regelwerk der nationalen Gesetze verschwunden.

Äh nein. Der Begriff wird in der aktuellen IV-Gebrechenscodierung immer noch verwendet.

Wenn man selbst recherchieren muss und nicht einfach irgendwo abschreiben kann, wird‘s halt schnell etwas anspruchsvoller. Aber warum auch präzise? Für die Behindis reicht doch auch «ungefähr».

Präszise und gut zu arbeiten wäre ein Zeichen von Respekt gegenüber den Menschen, die man vorgibt, zu vertreten. Dazu würde auch gehören, eigenständige, sorgfältig durchdachte und inhaltlich, konzeptionell und visuell ansprechende Kommunkationsmittel zu aktuellen Themen zu entwickeln. Das Geld war hier offensichtlich nicht das Problem. Problematisch sind vielmehr das offensichtliche Fehlen von Ideen, Kreativität, Sensibilität für kommende (und nicht schon tot gekaute) Themen sowie einem grundlegenden Wissen in professioneller Kommunikation.

Das ist jämmerlich, aber noch viel jämmerlicher ist, dass man im Behindertenbereich mit solch lausigen Leistungen immer noch durchkommt. Es fragt sich, sich, ob Organisationen, die den Respekt gegenüber den von ihnen vertretenen Menschen nicht selbst vorleben, die Richtigen sind, eben diesen Respekt «im Namen der Behinderten» einzufordern. Und ob diese Organisationen durch ihr unprofessionelles Verhalten den Betroffenen nicht mehr schaden als nützen.

Weiterführende Links zum Sprachgebrauch:
Leidmedien.de (unter «Journalistische Tipps»)
Beate Firlinger: Buch der Begriffe. Sprache, Behinderung, Integration
Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern: «Sprachleitfaden Behinderung»




Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel

Quelle: via @ IVInfo, May 06, 2016 at 02:53PM

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