Bei Jugendlichen kann das Jobcenter sogar noch schneller alle Hartz-IV-Bezüge streichen als bei Erwachsenen.
Große Träume, wenig Lebenserfahrung, ungewisse Zukunft: Teenager in der Pubertät haben es schwer auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Darum gibt es in Deutschland ein Jugendschutzgesetz. Unter 18jährige dürfen sich danach etwa nicht in Spielhallen aufhalten, keinen hochprozentigen Alkohol trinken, nicht öffentlich rauchen. Rechtsgeschäfte fern des Taschengeldbudgets sind nur mit Einwilligung Erziehungsberechtigter wirksam. Alles für das Wohlergehen unserer Kinder? 15- bis 17jährige, die in Hartz-IV-Haushalten leben, können sich nicht auf ihr Alter berufen. Jobcenter dürfen sie auf härteste Weise bestrafen, wenn sie deren Anordnungen nicht penibel befolgen.
Vergessene Amtstermine, ein nicht eingereichtes Schulzeugnis zur Zensurenkontrolle, ein unentschuldigter Fehltag beim auferlegten Ein-Euro-Job: Das alles kann schnell zum vollständigen Entzug der Existenzgrundlage führen – und das tut es auch, wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) Ende vergangener Woche auf jW-Anfrage einräumte.
Die übermittelte Statistik zu Minderjährigen hat die BA nirgends veröffentlicht. Kein Wunder: Danach lebten 2014 rund 250.000 junge Menschen zwischen 15 und 17 Jahren bundesweit von monatlich 302 Euro Hartz IV. In diesem Satz ist das Kindergeld bereits enthalten. Damit nicht genug: Von Januar 2014 bis Juni 2015 waren jeden Monat zwischen 1.194 und 1.583 Jugendliche von einer Sanktion durch die Jobcenter betroffen, mit dem Spitzenwert im Juni 2014. Ferner offenbart die Statistik: Pro Monat litten in diesem Zeitraum zwischen 170 (Januar 2015) und 269 (Juni 2014) 15- bis 17jährige unter völligem Leistungsentzug. Das bedeutet: Jobcenter hatten ihnen für ein Vierteljahr nicht nur die kompletten Mittel für Nahrung, Körperpflege und soziale Teilhabe, sondern auch für Obdach und die Krankenversicherung gestrichen.
Nach Vorgabe des Zweiten Sozialgesetzbuchs (SGB II) werden unter 25jährige besonders streng bestraft: Bei der ersten »Pflichtverletzung« kürzen Jobcenter ihnen den Regelsatz um 100 Prozent. Eine Vollsanktion trifft sie beim zweiten »Fehltritt« binnen eines Jahres, bei Älteren geschieht dies nach dem dritten »Patzer«. Nach Paragraph 36 des SGB I zählen Hartz-IV-Bezieher ab dem 15. Geburtstag als »erwerbsfähige Leistungsberechtigte«, wie BA-Sprecher Jürgen Wursthorn in seiner Antwort auf Nachfrage von jW erklärte. Aus diesem Gesetz ergebe sich für die Behörden auch die – in anderen Bereichen eingeschränkte – »Handlungsfähigkeit von Minderjährigen«. Deren gesetzliche Vertreter seien von Jobcentern lediglich »über den Eintritt von Rechtsfolgen« zu unterrichten, so Wursthorn.
Wie passt das mit dem Grundrecht auf Menschenwürde und dem »besonderen Schutzbedürfnis« Minderjähriger zusammen? Der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendschutz, Gerd Engels, beteuerte lediglich: »Ich kenne mich da nicht so aus.« Er verwies an den Paritätischen Gesamtverband. Der hat sich bereits in Stellungnahmen gegen hohe Leistungskürzungen bei Minderjährigen ausgesprochen, erläuterte Andreas Schulz von dessen Berliner Jugendhilfeabteilung. »Gerade bei jungen Menschen, die viel mehr Unterstützungsbedarf haben, wird viel zu viel gefordert und zu drastisch bestraft«, sagte er. Seiner Ansicht nach müsse es Gesetze geben, um stark sanktionierte Jugendliche abzufangen. »Das wäre eine Sache der Jugendämter«, erklärte Schulz. Eine Behörde, die von einer anderen Behörde verhängte Strafen ausbügelt, Jungen und Mädchen also notfalls mit zuvor entzogener Nahrung, medizinischer Hilfe oder Obdach versorgt? Anders gehe es wohl nicht, so Schulz.
Als Verteidiger von Kinderrechten gibt sich das Bundesfamilienministerium unter Manuela Schwesig (SPD). Auf deren Internetseite heißt es: »Der Schutz von Kindern und Jugendlichen hat für die Bundesregierung oberste Priorität.« Man wolle sie »in allen Lebensphasen und -situationen begleiten«. Vom Streichen der Essensration wegen »mangelnder Mitwirkung« steht dort nichts. Das Ministerium fühlt sich auch nicht zuständig für diese »Rechtsfolgenpolitik« der Jobcenter. Sprecher Frank Kempe verwies jW an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Das blieb eine Antwort bisher schuldig [...]
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Norbertschulze, October 21, 2015 at 09:11AM
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