Ich finde diesen Text und die Schilderung der Haltungen gegenüber den Obdachlosen, wie sie hier zum Ausdruck kommt, sehr beindruckend. Ich frage mich, ob eine solche Arbeit und solche sozialarbeiterische Haltungen heute noch möglich sind?
Harry Fenzel schreibt:
Ich erinnere mich gerne an die erste Begegnung mit meinem damaligen Leiter. Jürgen M., im November 1988. Ich hatte gerade mein Anerkennungsjahr als Sozialarbeiter im Caritasverband für den Bezirk Limburg beendet und im Anschluss einen befristeten Arbeitsvertrag erhalten. Meine Aufgabe formulierte der Geschäftsführer M. Sch. damals sinngemäß etwa so: „Im Dezember machen wir eine Einrichtung für Wohnungslose auf. Du kannst im Vorfeld schon mal Kontakt zur Szene aufnehmen. Im Diözesancaritasverband verteilt der Hausmeister Essensmärkchen, Unterwäsche und Strümpfe an Wohnungslose. Das kannst Du ja übernehmen. Im November kommt dann der Leiter für die neue Einrichtung". Das war im Sommer 1987, glaube ich.
Ich war jung, naiv und voller Tatendrang. In dem kleinen Raum im DiCV, in dem Wohnungslose bisher mit Essensgutscheinen und Unterhosen versorgt wurden, stellte ich ein Sofa und eine Kaffeemaschine auf, und nutzte so die Ausgabe von Almosen zur Begegnung mit wohnungslosen Männern und Frauen.
Und ich staunte. Ich staunte über die Lebensgeschichten, die Schicksale, das Leid und die Kraft. Und über den Humor und die Kreativität, die die Menschen von der Straße an den Tag legten, um in dieser Welt klar zu kommen (und mir dabei noch den einen oder anderen „Heiermann“ aus der Tasche zu locken…).
Es blieb nicht bei Unterhosen und Essensmärkchen. Über Widersprüche setzten Wohnungslose mit meiner Unterstützung recht schnell die Drei-Tages-Regelung des Sozialamtes für die Auszahlung von Tagessätzen außer Kraft und es kam zu ersten Interessenbekundungen von wohnungslosen Männern für eine Aufnahme im Walter-Adlhoch- Haus, welches im Dezember eröffnen sollte. Und dann kam der neue Leiter.
Ich war neugierig wie mein künftiger Vorgesetzter sein würde. Er war mir als „ein erfahrener Mann der Wohnungslosenhilfe“, vom Geschäftsführer angekündigt worden. Soweit ich mich erinnern kann, empfing ich ihn Anfang November 1988 in meinem kleinen improvisierten Büro im sog. „Haus der Dienste im DiCV“.
Ich hatte sofort Vertrauen. Meinen jungfräulichen Erfahrungen mit wohnungslosen Menschen und dem von mir geschaffenen bescheidenen Setting begegnete er mit Respekt. Ich erlebte ihn zugewandt und zuhörend, ich fühlte mich ernst genommen. Er sprach über die Menschen, für die wir da sein sollten, voller Achtung und sehr schnell wurde klar, dass er niemand war, der erziehen wollte. Ich verstand sehr schnell, dass er Klienten nicht als Objekt, sondern als Subjekt begriff und dass er eine Vision hatte. Weg von der „fürsorglichen Belagerung“ hin zum emanzipierten Miteinander. „Wir haben es mit Erwachsenen zu tun, von denen jeder über eine gehörige Portion Lebenserfahrung verfügt.“
Kein Alkoholverbot, kein Nachtdienst. Bestehende gängige Verhältnisse und Glaubensätze - wie sie damals in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe bundesweit existierten - nicht nur hinterfragen, sondern verändern. Das reizte hatte ihn wohl zur Übernahme der Leitung des WAH gereizt: Zu beweisen, dass es geht: Benachteiligte und ausgegrenzte Menschen nicht mit Altruismus und Vorschriften zu ersticken, sondern Freiheit und echte Teilhabe anzubieten.
Walter O. war der Erste, den wir im WAH aufnahmen. Es war ein bewegender Moment, mit ihm, dem erwachsenen gestandenen Mann durch das noch leere Haus zu gehen und ihn sich ein Zimmer aussuchen zu lassen. Nein, keine Einzelzimmer, Doppelzimmer und sogar ein Sechs- Bett-Zimmer gab es. Blau-weiß karierte Bettwäsche und Metallbetten…
Und trotzdem: Aufbruchstimmung. Es dauerte nicht lange und das WAH war voll. Fremdenlegionäre und Zirkusarbeiter, gescheitere Diplomingenieure und Heiratsschwindler, Strafentlassene, Alleingelassene, Flüchtige, Opfer und Täter, Kleinlaute und Großspurige, Hungrige und - vor allem - Durstige… Immer wieder erlebten wir, dass erwachsene Männer die Bierdose reflexartig unter dem Tisch verschwinden ließen, wenn einer von uns den Aufenthaltsraum betrat. Die Männer waren es nicht gewohnt, dass es nicht verboten war Alkohol zu trinken. Sie durften Bier und ihren Fusel trinken, aber sie sollten die Regeln des Zusammenlebens respektieren. Schnaps war hingegen unerwünscht, auch wenn manche Fanta auffallend hell erschien und ich vermutlich heftig nach Luft geschnappt hätte, wenn ich einen Schluck dieser Limo probiert hätte.
Ich war beeindruckt von der Art und Weise, wie Jürgen M. mit den Männern die Auseinandersetzungen führte. Wie aufmerksam er zugehört hat und wie mutig er sich manchmal auch hat überzeugen lassen und per Handschlag Vereinbarungen treffen konnte. Und wie gut er überzeugen konnte und zwar gefordert, aber nicht überfordert hat. Nicht um seinetwillen, sondern immer, um sein Gegenüber wachsen zu lassen. Nie habe ich ihn von oben herab mit jemand reden sehen, sondern immer hat er die Begegnung auf Augenhöhe gesucht und auch gefunden.
Und wie deutlich er auch sein konnte, wenn er sich über einen dieser Männer geärgert hatte. Aber nie verletzend. Nie habe ich erlebt, dass er seine Macht als Leiter missbraucht hätte gegenüber den Bewohnern. Sein Respekt und seine Achtung waren echt. Und das hat jeder gemerkt und so haben ihm selbst die wildesten Kerle ebenfalls Respekt gezollt.
Ich habe viel von Jürgen M. und den Wohnungslosen gelernt. Auch, dass diese Männer Spiegel für uns sein können. Für unseren Ehrgeiz, unseren Narzissmus, unsere eigene Bedürftigkeit.
Weg mit der #Agenda2010
Quelle: via @Einmischen.info, October 30, 2015 at 10:29AM
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